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       # taz.de -- Buch über Zionismus und Künste: Die Janusköpfigkeit des Zionismus
       
       > Ita Heinze-Greenberg legt mit „Zuflucht im Gelobten Land“ ein Buch zum
       > Verhältnis von Architektur und Literatur in Palästina und Israel vor.
       
   IMG Bild: Tel Aviv, Dizengoffstraße um 1934
       
       Wie dringend nötig eine basale Zionismuskompetenz für Gegenwartsdiagnosen
       ist, hat die unterkomplexe, einer Delegitimierung des Staates Israel
       zuarbeitende Rede von „Siedlerkolonialismus“ gezeigt, die nach den
       Hamas-Attacken auf Israel vom 7. Oktober 2023 weltweit ins Kraut geschossen
       ist. Einen geeigneten Zionismus-Schnellkurs bietet vor diesem Hintergrund
       Ita Heinze-Greenbergs Buch „Zuflucht im Gelobten Land. Deutsch-jüdische
       Künstler, Architekten und Schriftsteller in Palästina/Israel“.
       
       Die Publikation der Architekturhistorikerin, die zwischen 2012 und 2020 am
       Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich
       unter anderem als Titularprofessorin für die Architekturgeschichte der
       Moderne lehrte, stellt das kulturelle Projekt des Zionismus bis weit in die
       Zeit nach der Staatsgründung Israels dar – und erweitert den
       Architekturdiskurs auf gewinnbringende Weise um den Aspekt der Literatur.
       
       Beiläufig, aber bestimmt attestiert Heinze-Greenberg etwaigen Versuchen
       einer postkolonial inspirierten Stadtgeschichtsschreibung – namentlich
       nennt sie Sharon Rotbards 2005 auf Hebräisch und 2015 auf Englisch
       erschienenes Buch „White City, Black City: Architecture and War in Tel Aviv
       and Jaffa“ –, dass sie „im Schwarz-Weiß-Duktus eine Opfer-Täter-Relation
       zwischen Jaffa und Tel Aviv“ konstruieren würden.
       
       Derlei kommentiert Heinze-Greenberg lapidar: „Die von Rotbard unter
       kolonialistischem Gebaren abgehefteten Europäismen halfen nicht nur der
       Familie Feuchtwanger beim Prozess der Beheimatung.“
       
       ## Der Westen und Palästina
       
       Zudem greift sie in ihren Zionismus-Analysen unter anderem auf die von
       Edward Said betriebene kritische Rede von der „Orientalisierung des
       Orients“ zurück – aber nur, um eine solche Agenda an die
       Engländer*innen outzusourcen, die im Fahrwasser der
       Arts-and-Crafts-Bewegung ihr Mandatsgebiet Palästina vor den Einflüssen der
       Moderne schützen wollten.
       
       In diesem Zusammenhang ist beispielsweise der Architekt Charles Robert
       Ashbee zu erwähnen, der in seinem „Palestine Notebook“ unter der
       Überschrift „Allah and the Machines“ paternalistisch schreibt: „The future
       of the West may lie with the machines, but it will not be the future of
       Palestine.“
       
       Für die deutschsprachigen Zionist*innen und Emigrant*innen, die auch –
       mit besten Absichten – etwas betrieben, was als „Orientalismus“ kritisiert
       werden könnte (wenngleich in einer die Technik und die wirtschaftliche
       Zukunft des Landes stärker befördernden Variante als die englische),
       reserviert Heinze-Greenberg den harmloseren Vorwurf „Historismus“.
       
       Damit meint sie etwa die Herangehensweise eines Alexander Baerwald. Der
       gebürtige Berliner, der mit Albert Einstein Streichquartett spielte,
       arbeitete im Auftrag des Hilfsvereins der deutschen Juden ab 1909 am ersten
       Hochschulbau der Region: der „Anstalt für technische Erziehung in
       Palästina“ in Haifa, dem späteren Technion.
       
       ## Bodenständig und orientalisch
       
       Das prächtige Gebäude, das wie Gottfried Sempers ETH-Gebäude herrschaftlich
       an einem Berghang aufragt, in seinem Grundriss und seiner
       Baumassenverteilung aber Anleihen an Richard Lucaes Technischer Hochschule
       Berlin-Charlottenburg macht, wurde 1912 fertig gestellt. Baerwald, so
       Heinze-Greenberg, sprach sich „mit großer Vehemenz gegen den Transfer
       europäischer Baustile nach Palästina“ aus.
       
       1926 schreibt der Architekt: „Der in Palästina bauende Architekt muss sich
       entscheiden: Entweder morgenländisch oder abendländisch zu bauen. Der
       Verfasser hat sich mit aller Entschiedenheit zur morgenländischen Bauweise
       bekannt. Es gibt für ihn keine Frage, dass bodenständig gebaut werden muss,
       da die orientalischen Bauten die klimatischen Anforderungen restlos
       erfüllen und mit der Landschaft zum einheitlichen Eins verschmelzen.
       Selbstverständlich ist dabei, dass die technischen und hygienischen
       Erfahrungen des Abendlandes benutzt werden.“
       
       Wenngleich spätestens in den 1930er Jahren derlei Stildebatten überholt
       waren, lebten sie doch in einschlägigen Äußerungen etwa eines Erich
       Mendelsohn weiter. Dieser 1933 von Berlin zunächst nach England und 1935
       nach Palästina emigrierte Architekt, der in Tel Aviv zu seinem großen
       Missmut viele in seinem Geiste errichteten Gebäude mit mendelsohnesk
       abgerundeten Ecken vorfand, wandte sich 1940 in seinem Text „Palestine and
       the World of Tomorrow“ kritisch gegen derlei Tendenzen und beklagt:
       
       „Tel Aviv schneidet sich selbst vom arabischen Hinterland ab und entwickelt
       sich zu einem hundertprozentig jüdischen Geschäftszentrum mit eigenem
       Hafen, eigener Sprache, eigener Kleidung. Es wird zu einer Enklave inmitten
       der arabischen Welt.“
       
       ## Ein Paradigmenwechsel
       
       Mendelsohn, so macht Heinze-Greenberg deutlich, liebte die arabischen
       Dörfer Palästinas mit ihren Kuppeldach-bewehrten Häusern: „Über die
       Rezeption der regionalen arabisch-semitischen Kultur des Landes Palästina
       erhoffte Mendelsohn sich, zu seiner eigenen jüdisch-semitischen Identität
       und ihren Wurzeln zurückzufinden. Es ging ihm darum, die jüdische Nation
       kongenial im orientalischen Kontext zu verorten.“
       
       Konsequenterweise [1][zog Mendelsohn mit seiner Frau Luise nicht nach Tel
       Aviv, sondern nach Jerusalem], und zwar in eine beengte arabische Windmühle
       mit Blick auf die Altstadt.
       
       Zu den besten und theoretisch ergiebigsten Passagen von „Zuflucht im
       Gelobten Land“ gehören jene über das Verhältnis von Sprache beziehungsweise
       Literatur und Architektur. Der in der Staatsgründung Israels kulminierende
       Zionismus brachte einen fundamentalen Paradigmenwechsel des mit Israel sich
       identifizierenden Judentums mit sich, denn, so Heinze-Greenberg: Mit ihm
       wurde die Buch-Orientierung, die seit der Zerstörung des Ersten
       Salomonischen Tempels im Jahre 587 v. u. Z. vorherrschte, zugunsten der
       Bau-Orientierung relativiert.
       
       Doch mit der zionistischen Relativierung der Schrift zugunsten der
       Architektur gerieten die emigrierten Schriftsteller*innen ins Abseits,
       zumal sie sich inmitten des neuen hebräischen Imperativs sprachlich kaum
       noch zurechtfinden konnten. [2][Während Architekt*innen mit der
       großmaßstäblichen Schaffung neuer Lebenswelten beauftragt wurden],
       schlitterte die schreibende Zunft – darunter Else Lasker-Schüler und Arnold
       Zweig – in tiefe Lebenskrisen.
       
       ## Sprache und Architektur
       
       Nichts könnte also in dem Projekt des Zionismus vor allem in der Phase ab
       den 1930er Jahren weiter voneinander entfernt liegen als Sprache und
       Architektur. Entsprechend konkludiert Heinze-Greenberg, dass sich die
       Architektur auf einer ästhetischen Tabula rasa artikulierte, „die
       Geschichtslosigkeit zur Tugend erklärte“, während das jüdische Gemeinwesen
       in Palästina mit dem Hebräischen auf seine biblische Vergangenheit
       zurückgriff.
       
       Es sind Beobachtungen wie diese, die die radikale Janusköpfigkeit des
       fortgeschrittenen Zionismus deutlich und „Zuflucht im Gelobten Land“ zu
       einem herausragenden Buch machen.
       
       15 May 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stephan Trüby
       
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