# taz.de -- Aktivist über Lösung im Nahost-Krieg: „Eine Art Freibrief für Israel“
> Linke Israelis wie Nimrod Flaschenberg wollen, dass Deutschland die
> Zurückhaltung gegenüber Israel aufgibt und auf einen Waffenstillstand
> drängt.
IMG Bild: Israelis for Peace
taz: Herr Flaschenberg, Sie demonstrieren mit der Gruppe „Israelis for
Peace“ seit Ende letzten Jahres jeden Freitag vor dem deutschen
Außenministerium. Warum?
Nimrod Flaschenberg: Wir sind eine Gruppe linker Israelis und fordern vor
allem einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und
eine diplomatische Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt. Unsere
dringendste Forderung an Deutschland ist, dass es Israel zu einem
Waffenstillstand drängen muss, aber auch dass es insgesamt seine Politik
der vollständigen Unterstützung Israels ändert. Die israelische Regierung
setzt sich weder für Demokratie oder eine Zwei-Staaten-Lösung noch für
Menschenrechte ein. Vor ein paar Monaten haben wir von der deutschen
Regierung einen Positionswechsel gefordert, jetzt fordern wir konkrete
Taten.
Was hat sich verändert?
Inzwischen spricht sich die [1][deutsche Regierung für einen
Waffenstillstand aus und kritisiert das Verhalten Israels]. Aber wir sehen
keine konkreten Maßnahmen wie etwa den Stopp von Waffenlieferungen oder die
Aussetzung von mehreren Partnerschaften, insbesondere im Kontext der
Besatzung im Westjordanland. Deutschland ist aktuell der zweitgrößte
Waffenlieferant Israels. Ohne die Waffenlieferungen aus Deutschland, den
USA und anderen Staaten könnte Israel den Krieg in Gaza nicht weiterführen
und wäre gezwungen, ein Abkommen zu schließen.
Die Exportgenehmigungen aus Deutschland sind in diesem Jahr bisher weit
geringer als 2023, [2][das Europäische Zentrum für Verfassungs- und
Menschenrechte, ECCHR] klagt aktuell gegen die Umsetzung bereits
vereinbarter Waffenlieferungen. Aber wenn wir über die internationale Ebene
sprechen: Welchen Einfluss hat Deutschland da denn überhaupt?
Deutschland könnte aufgrund seiner führenden Position in der EU eine
wichtige Rolle spielen. Die EU ist als größter Handelspartner Israels wegen
ihres internationalen Einflusses und ihrer Verbindungen zu israelischen
Entscheidungsträgern ein sehr wichtiger Akteur. Wenn Deutschland seine
Position zu Israel nur ein wenig ändern würde, könnte das die Position der
EU insgesamt sehr verändern.
Sie fordern in letzter Zeit vor allem einen Waffenstillstand und den Stopp
deutscher Waffenlieferungen nach Israel. Hat die Forderung nach Freilassung
der Geiseln weniger Priorität?
Es ist eine der wichtigsten Forderungen. Alle Leben sind gleich wichtig.
Aber Israel belügt seine Bevölkerung und die Welt, wenn es behauptet, die
Militäroffensive in Gaza trage zur Freilassung der Geiseln bei. Das ist
falsch. Die bisher freigelassenen Geiseln kamen fast alle während des
Waffenstillstands frei, seit dem Ende des Waffenstillstands wurden sogar
Geiseln bei israelischen Befreiungsversuchen getötet. Die Geiseln können
nur durch einen Waffenstillstand freikommen.
Ist es möglich , die Hamas militärisch zu besiegen?
Die Hamas ist eine schreckliche Organisation, die zu verurteilen ist. Ihre
Gräueltaten vom 7. Oktober sind abscheulich und entsetzlich, ich kenne
Menschen, die dort gestorben sind. Aber die meisten israelischen
Kommentatoren sehen keine Chance, sie durch militärische Aktionen zu
besiegen.
Und wie kann man sie dann bekämpfen?
Die einzige Möglichkeit besteht darin, jene Kräfte innerhalb der
palästinensischen Gemeinschaft zu stärken, die eine politische Lösung und
den Frieden unterstützen. Wir müssen den Palästinensern einen Horizont von
Hoffnung und Freiheit eröffnen. Denn die Hamas profitiert – ebenso wie die
israelische Regierung und die israelische Rechte – von Konflikten und
Blutvergießen.
Was ist Ihre Vision?
Ich persönlich halte die Zwei-Staaten-Lösung für die einzig praktikable
Lösung, aber unsere Gruppe fordert dies nicht ausdrücklich. Wir fordern
eine diplomatische Lösung, die die kollektiven Rechte sowohl der
Palästinenser als auch der Israelis anerkennt.
Wie beurteilen Sie die Diskussionen zu Israel und Palästina in Deutschland?
Ich sehe die zentrale Bedeutung des historischen Kontextes der Beziehung
zwischen Deutschland und den Juden. Ich denke aber, dass es dringend
notwendig ist, die Diskussion um Israel und Palästina im deutschen Diskurs
zu normalisieren und Israel wie einen Staat zu behandeln, der ein
Besatzungsregime unterhält, und so damit umzugehen wie mit
Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt. Die deutsche Regierung
interpretiert die Idee der Staatsräson als eine Art Freibrief für Israel,
mit den Palästinensern zu machen, was es will. Für mich ist offensichtlich,
dass die deutsche Gesellschaft nicht die gleiche Position vertritt, sondern
versteht, dass die Verbrechen, die in Gaza geschehen, nicht entschuldigt
werden können – weder durch eine Staatsräson noch durch die deutsche
Geschichte. Ich erwarte deswegen von der deutschen Gesellschaft, dass sie
Druck auf ihre Regierung ausübt.
Und wie nehmen Sie das zivilgesellschaftliche Engagement hier wahr ?
Als ich hierherzog, war ich überrascht, wie klein die Zivilgesellschaft in
Deutschland ist, die sich für eine politische Lösung im Nahen Osten und für
Frieden in Israel und Palästina einsetzt. In den USA, Großbritannien oder
Frankreich ist das ganz anders. Da gibt es jüdische, palästinensische und
gemischte Gruppen. Es gibt sowohl linksradikale propalästinensische Gruppen
als auch liberale Gruppen – sogar auch zionistische –, die gegen die
israelische Politik und die Besatzung sind. Viele setzen einen Schwerpunkt
auf Lobbyarbeit, Politik und Gesetzgebung und positionieren sich dabei
weder ausgesprochen stark antizionistisch noch sehr energisch pro Israel.
Was beobachten Sie hier?
In Deutschland fehlt es an Organisationen, die solche liberalen Positionen
zu Israel und Palästina in der Zivilgesellschaft vertreten. Ich sehe hier
ein paar Organisationen der Linken und der palästinensischen Diaspora, die
als Basisbewegung Proteste und Interventionen durchführen, wie Palästina
spricht, und einige jüdische radikale Gruppen wie die Jüdische Stimme oder
den Jüdischen Bund. Auf der anderen Seite gibt es Organisationen, die
absolut proisraelisch sind, wie den Zentralrat der Juden und die
Deutsch-Israelische Gesellschaft.
Einige der von Ihnen genannten propalästinensischen Gruppen haben den
Terrorangriff vom 7. Oktober als Akt der Befreiung bezeichnet. Was halten
Sie von solchen Erklärungen?
Viele Texte, [3][die von propalästinensischen und linken Gruppen nach dem
7. Oktober veröffentlicht wurden], waren schrecklich. Aber ich denke, noch
schrecklicher sind die Taten, die Israel in Gaza begeht. Es ist
kompliziert, denn diese Erklärungen machen mich wütend und ich fühle mich
von einigen in der Linken und in der Palästina-Solidaritätsbewegung
verraten. Aber wir müssen uns auf die aktuellen Ereignisse, auf die von
Rache und Vergeltung geleiteten Angriffe des israelischen Staates
konzentrieren. In diesem Sinne tun die Menschen, die gegen den Krieg und
für einen Waffenstillstand demonstrieren, das Richtige, auch wenn mir
einige ihrer Erklärungen nicht gefallen.
Gehen Sie selbst auf propalästinensische Demos?
Ich habe an mehreren propalästinensischen Demos teilgenommen, und viele aus
unserer Gruppe gehen sehr oft dort hin. Wenn ich ein Problem habe, dann mit
den seltenen Fällen, in denen Angriffe auf Zivilisten gerechtfertigt
werden, die ich wirklich ablehne und inakzeptabel finde.
Was ist mit dem Existenzrecht Israels?
Was das Existenzrecht Israels angeht, müssen alle Seiten verstehen und
anerkennen, dass beide Völker, Israelis und Palästinenser, ein kollektives
Recht auf Selbstbestimmung haben. Die Israelis haben dieses Recht bereits
verwirklicht, das muss den Palästinensern jetzt auch ermöglicht werden. Im
deutschen Kontext ist die Interpretation, ob das Existenzrecht Israels
infrage gestellt wird, oft überzogen. Im Fall der Aussage „From the river
to the sea, Palestine will be free“, bin ich sicher, dass einige Leute, die
das fordern, denken, das Land müsse von Juden befreit und die Juden müssten
vertrieben werden. Aber ich kenne viele Menschen, die diesen Slogan
skandieren, die an einen demokratischen Staat glauben, in dem Juden und
Araber zusammenleben, mit Staatsbürgerschaft und gemeinsamen Rechten. Ich
sehe kein grundsätzliches Problem darin, das zu fordern. Meiner Meinung
nach gibt es eine gefährliche Gleichsetzung von Antizionismus und
Antisemitismus. Die Kriminalisierung von propalästinensischen Äußerungen
ist völlig übertrieben.
29 Apr 2024
## LINKS
DIR [1] /Deutschland-und-der-Krieg-in-Gaza/!5999725
DIR [2] /Deutsche-Waffenlieferungen-an-Israel/!6005563
DIR [3] /Proteste-gegen-Gaza-Krieg-an-US-Unis/!6005863
## AUTOREN
DIR Ute Löhning
## TAGS
DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
DIR Israel
DIR Gaza
DIR Waffenstillstand
DIR Palästina
DIR GNS
DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
DIR Martini Shot
DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
DIR Amnesty International
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Mahnwache vor einer Synagoge in Berlin: Langer Atem gegen Antisemitismus
Seit knapp zwei Jahren versammeln sich jeden Freitag solidarische Menschen
vor der Synagoge in Kreuzberg. Sie wollen damit die Gemeinde unterstützen.
DIR Israelische Offensive auf Rafah: Hamas floriert auf verbrannter Erde
Mit dem Angriff auf den letzten Landstrich in Gaza will Israel die Hamas
endgültig besiegen. Dabei sind nicht mal die bereits eroberten Gebiete
hamasfrei.
DIR Proteste an der Columbia University: Die linke Sorge um Deutschland
Der Nahost-Diskurs ist verrottet. Aber was viele nur für Deutschland
beklagen, ist anderswo nicht besser. Ein kurzer Blick nach New York und
London.
DIR Zahlungen an UNRWA: Deutsches Geld wird wieder fließen
Das von Israel kritisierte UN-Hilfswerk UNRWA bekommt wieder Geld aus
Deutschland. Die Bundesregierung mahnt aber rasche Reformen an.
DIR Jahresbericht von Amnesty International: Amnesty kritisiert Doppelstandards
Menschenrechtsorganisation wirft der Bundesregierung Schweigen zu
Kriegsverbrechen von Israels Armee vor. Das schwäche die internationale
Ordnung.