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       # taz.de -- Psychiatrische Betreuung zu Hause: „Es hat etwas Normalisierendes“
       
       > Ist die psychiatrische Behandlung zu Hause besser als in der Klinik?
       > Andreas Bechdolf leitet an der Berliner Charité die erste große Studie
       > dazu.
       
   IMG Bild: Menschen, die täglich besucht wurden, waren während der Behandlung zufriedener als im stationären Aufenthalt
       
       wochentaz: Wenn ein Team aus der Psychiatrie täglich zu den
       Patient*innen nach Hause kommt, nennt sich das stationsäquivalente
       psychiatrische Behandlung (StäB). Sie haben die erste große Studie dazu
       durchgeführt. Was genau haben Sie untersucht? 
       
       Andreas Bechdolf: Wir haben mehrere Dinge gemessen. Zum einen wollten wir
       wissen, ob die Behandlung von psychisch Erkrankten in ihrem Zuhause einen
       Einfluss darauf hat, wie häufig sie später wieder vollstationär
       aufgenommen werden. Dafür haben wir 200 Menschen in ganz Deutschland, die
       psychiatrisch in einer Klinik behandelt werden, mit 200 Personen
       verglichen, die eine genauso umfangreiche Behandlung zu Hause in Anspruch
       nehmen.
       
       Was kam dabei heraus? 
       
       Patient*innen, die ihre psychische Krise mit täglichen Besuchen von
       Krankenhauspersonal zu Hause bewältigt hatten, wurden in den zwölf Monaten
       danach zu knapp 20 Prozent weniger wieder vollstationär behandelt.
       
       Eine geringere Wiederaufnahmerate [1][spricht für die Alternative zum
       stationären Aufenthalt]. Wie haben die Patient*innen die Behandlung in
       den eigenen vier Wänden wahrgenommen? 
       
       Grundsätzlich positiv. Die Menschen, die täglich besucht wurden, und ihre
       Angehörigen waren während der Behandlung zufriedener. Sie fühlten sich mehr
       in die Behandlung einbezogen als die Gruppe der Patient*innen, die
       stationär in der Klinik unterstützt wurde.
       
       Konnten Sie psychische Krankheiten ausmachen, bei denen die umfangreiche
       Behandlung zu Hause besonders gut funktionierte? 
       
       Grundsätzlich können alle Patient*innen zu Hause behandelt werden –
       wenn nicht die akute Gefahr besteht, sich selbst oder anderen etwas
       anzutun. Besonders profitieren Menschen mit Psychosen. Sie leiden in der
       psychischen Krise häufig unter Misstrauen und Ängsten, was sich dann auch
       auf therapeutische Angebote oder die Mitarbeitenden einer Klinik beziehen
       kann. Ihnen fällt es oft leichter, einen Besuch zu akzeptieren als einen
       Krankenhausaufenthalt. Auch Menschen, die in der Krise ihre Kinder oder
       Angehörigen weiter betreuen möchten oder müssen, haben diese Möglichkeit
       mit dem Angebot.
       
       In Deutschland gibt es die intensive psychiatrische Behandlung zu Hause
       erst seit 2018. In Nachbarländern wie den Niederlanden, Dänemark oder in
       Großbritannien gibt es solche Angebote teilweise schon seit den 70er
       Jahren. 
       
       Viele Kolleg*innen, ich eingeschlossen, sind sehr glücklich, dass es das
       Angebot endlich gibt. Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihre
       Angehörigen wünschen sich seit Langem die Möglichkeit, intensiv zu Hause
       behandelt zu werden. Internationale Daten zeigen schon seit Jahrzehnten,
       dass die Behandlung sehr effektiv ist. Viele Menschen in schweren
       psychischen Krisen schaffen es nicht, ins Krankenhaus zu gehen, weil die
       psychischen Symptome, wie Antriebsarmut, Angst oder Misstrauen, es
       erschweren. Außerdem ist der Aufenthalt in einem psychiatrischen
       Krankenhaus in [2][unserer Gesellschaft leider weiterhin stark negativ
       stigmatisiert].
       
       Wieso hat es so lange gedauert, bis das Angebot in Deutschland eingeführt
       wurde? 
       
       Im internationalen Vergleich ist die psychiatrische Versorgung in
       Deutschland stark auf Krankenhausbetten und große Institutionen orientiert.
       Aufseiten der Kostenträger, der Krankenkassen, war jahrzehntelang keine
       Bereitschaft da, ein angemessenes Budget für aufsuchende Behandlungsformen
       zur Verfügung zu stellen. Das hat sich erst mit dem neuen Gesetz geändert.
       Jetzt zahlen die Krankenkassen etwa das gleiche Entgelt für StäB wie für
       eine vollstationäre Behandlung.
       
       Inzwischen gibt es die Behandlungsform in knapp 70 von 400 psychiatrischen
       Krankenhäusern. 
       
       Das ist bereits eine große Zahl für die relativ kurze Zeit, seit der es die
       gesetzliche Möglichkeit gibt. StäB in der Klinik einzuführen kann
       herausfordernd sein. Das Entgelt, das jedes Krankenhaus für einen Besuch
       bei den Patient*innen zu Hause bekommt, muss einzeln mit den
       Krankenkassen verhandelt werden. Das ist für die Klinikträger sehr
       aufwendig. Außerdem ist StäB mit einer stärkeren Orientierung an den
       Menschen, die das Angebot nutzen, verbunden – weg von der Institution. Das
       erfordert viel Umorganisation der praktischen Abläufe.
       
       Was muss noch verbessert werden, damit die Behandlungsform an mehr
       Standorten angeboten wird? 
       
       Es gibt zahlreiche Regelungen zu beachten und Formulare auszufüllen. Das
       ist ein hoher Aufwand für die Mitarbeitenden: die schriftliche Einwilligung
       der Angehörigen, der Ausschluss von Kindeswohlgefährdung, ein täglich
       vorgeschriebener Besuch, ein Besuch vom Oberarzt pro Woche, die
       wöchentliche Teamsitzung. Diese starke Formalisierung entspricht nicht
       immer den Wünschen der Nutzenden. Mehr Flexibilität würde es einfacher
       machen, die Menschen auch längerfristig zu Hause zu behandeln.
       
       Kann die Behandlung künftig dabei helfen, die noch immer vorhandene
       Stigmatisierung einer psychiatrischen Behandlung aufzubrechen? 
       
       Es hat auf jeden Fall etwas Normalisierendes, eine psychische Krise in
       seiner vertrauten Umgebung zu bewältigen – also sich behandeln zu lassen,
       ohne dafür einen fremden, ungewohnten Raum wie ein Krankenhaus betreten zu
       müssen.
       
       11 May 2024
       
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