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       # taz.de -- Die Umbrüche Roms in der Renaissance: Aus dem Abfall alter Zeiten
       
       > Maarten van Heemskerck reiste im frühen 16. Jahrhundert nach Rom und
       > dokumentierte die Stadt. Seine Zeichnungen sind im Kulturforum Berlin zu
       > sehen.
       
   IMG Bild: Maarten van Heemskerck, Blick auf das Forum Romanum, um 1532–1536, (Ausschnitt)
       
       Rom ist die Sehnsucht des Nordens. Seit zwei Jahrtausenden pilgern die
       Frommen, seit mindestens einem halben Jahrtausend die Künstler und
       Architekten zu ihr: [1][Palladio], Serlio, Goethe, die französischen
       Akademiker des 18. Jahrhunderts, die Modernisten der Nachkriegszeit. Aber
       welches Rom meinen sie eigentlich? Das der Antike, der Renaissance, des
       Barock, der Avantgarden?
       
       Es ist das Erstaunliche bei dieser Rom-Begeisterung: Die Stadt wird immer
       wieder aktualisiert, obwohl sie so alt, so ewig erscheint. Dabei hat sich
       Rom oft gewandelt in einer Radikalität, die wie ein Vorbild erscheint für
       den Umbau der europäischen Städte zu Festräumen des Bürgertums im 19.
       Jahrhundert oder den chinesischer Großstädte seit der Kulturrevolution, dem
       weite Teile des chinesischen Kulturerbes zum Opfer fielen.
       
       Wie radikal sich die Ewige Stadt im frühen 16. Jahrhundert veränderte, ist
       an den mehr als 170 Rom-Zeichnungen des holländischen Malers Maarten van
       Heemskerck zu erleben. Sie werden derzeit erstmals im vollen Zusammenhang
       im Berliner Kupferstichkabinett gezeigt.
       
       Geboren wurde Maarten van Heemskerck 1498, also in den letzten Jahren jener
       Zeit, die man das „Mittelalter“ nennt. Er erhielt seine Ausbildung im
       Atelier von Jan von Scorel, einem der ersten niederländischen Maler,
       [2][die die italienische Renaissance nach Norden brachten].
       
       Verwertung von Ruinen 
       
       1532 dann reiste „Maarten“ aus dem Örtchen Heemskerck – bis heute erinnert
       dort ein Obelisk an seinen Vater, einen wohlhabenden Gutsherrn – im damals
       schon reiferen Alter, aber noch nicht verheiratet, nach Rom, zu Fuß, auf
       dem Pferd oder Esel oder im Ochsenkarren. Geschult von Reiseberichten und
       Erzählungen etwa seines Lehrers Jan van Scorel durfte er ein Rom der Ruinen
       erwarten. Aber er kam in ein Rom, das diese Ruinen verwertete. Und er
       zeichnete daraufhin vieles, das heute unwiederbringlich verschwunden ist.
       
       So mancher antike oder mittelalterliche Bau ist nur durch Heemskerck
       überliefert. Und er war offenkundig fasziniert von den Baustellen –
       grandios türmen sich auf einem Blatt die Gewölbe und Kuppelpfeiler des
       heutigen Petersdoms über die Säulenreihen der dem Untergang geweihten
       spätantiken Basilika von Alt Sankt Peter.
       
       Heemskerck kam gerade zurecht, um die auf Michelangelos grandiose Kuppel
       hinauslaufende Umplanung des Petersdoms zu erleben, nachdem Bramantes
       Ursprungsentwurf schon von Raffael und Sangallo stark bearbeitet worden war
       – die aber auch nicht fertig wurden. Er stand sozusagen vor einer modernen
       Bauruine, die sich in die Ruine einer legendären alten Kirche hineinfraß,
       zeichnete diesen Zerstörungsakt, ohne dass sich aber Protest ablesen lässt,
       den es durchaus gab.
       
       Heemskerck machte sich schnell beliebt in Rom, auch, weil klar war: Dieser
       Maler wird den Ruhm der Stadt nach Norden tragen, mit seinen Zeichnungen,
       seinen Gemälden, seinen Erzählungen. Auch deswegen kam er in so manchen
       Adelspalast, der sonst verschlossen blieb, konnte die Skulpturenhöfe mit
       ihren protomuseal arrangierten antiken Architekturstücken und Skulpturen,
       die verwunschenen Gärten zeichnen.
       
       Bacchus, strahlend-frech 
       
       Und mitten zwischen all diesen Zeugnissen des Untergangs die
       strahlend-freche, topmoderne Statue des Bacchus von Michelangelo. Alles
       Themen, die italienische Maler erst Jahrzehnte später als reizvoll ansahen.
       
       Die Nachwelt allerdings sah ihn nicht als einen der „großen“
       niederländischen Künstler. Dazu ist seine Kunst wohl zu sehr eine des
       Dazwischen-Seins: zu „italienisch“ und Renaissance-schön wie bei Raffael,
       nicht genialisch wie Michelangelo und mit der Lust an bizarren Verdrehungen
       und individualistischen Porträts auch zu „nordisch“. Auf seinem vor der
       Rom-Reise gemachten Gemälde „Taufe Christi im Jordan“ geht es vor allem
       darum zu zeigen, dass Heemskerck perspektivisch perfekt männliche Muskeln
       von vorne, der Seite und von hinten zeigen kann – und zwar in allen
       möglichen Streckungs- und Dehnungsvarianten.
       
       Man denkt fast an Maler der deutschen Spätgotik, nur eben naturalistischer.
       Schwule Kunst also? [3][Voll in die Zwangsaktualisierungs-Falle] gerannt.
       Was Heemskerck empfand bei all diesen Männerdarstellungen, darüber wissen
       wir nichts. Sicher aber ist: Sie folgen einem um 1530 bereits fest
       etablierten Kanon, zu dem auch einige Venus-Statuen, vor allem aber die
       Statuen männlicher Helden und Gottheiten gehörten.
       
       Heemskercks Rom-Zeichnungen stammen aus einem 1879 aus Paris erworbenen
       Album, das zusammen mit einem zweiten Band als Vorlagenmaterial für die
       Studierenden der Berliner Kunstgewerbeschule dienen sollte. Erst 1889
       wurden sie, nunmehr doch als Kunstwerke deklariert, an das
       Kupferstichkabinett abgegeben.
       
       Beide Seiten sichtbar 
       
       2021 aber musste das eine Album aus konservatorischen Gründen aufgelöst
       werden, die Blätter genau untersucht, ihre historische Folge weitgehend
       rekonstruiert und nun ausgestellt werden. Zu sehen sind sie in einer
       kreisrunden Installation, geordnet nach Rom- und Antiken-Themen, und zwar
       so, dass immer beide Seiten der Blätter sichtbar sind.
       
       So kann man erleben, wie die Zeichnungen auf einem Blatt platzeffizient und
       doch elegant komponiert werden, das so jackentaschengroß ist wie heutige
       Notizzettel. Sie sind mal straff, mal kursiv oder schleifend skizziert, mit
       geraden, diagonalen oder gekreuzten Schraffuren, Konturen und Schatten
       angelegt, mit Bleistift vorskizziert, um dann mit Tinte nachzuarbeiten, in
       weichem Rötel fließend Körper entstehen zu lassen. Landschaften sind zu
       sehen, Details wie antike Schuhbindungen, Panther, Straußenvögel,
       Kerzenleuchter und immer wieder Statuen in oft außergewöhnlichen
       Perspektiven.
       
       Etwa der legendär-muskelbepackte Torso des Belvedere, der bis heute im
       Belvedere-Palast des Vatikan steht, fast so wie vor 500 Jahren. Eine
       zerbrochene Herkules-Statue, die um 1530 fest etablierte Standardansichten
       für Zeichner hatte: von vorne, der Seite und von hinten auf den mächtigen
       Rückenbogen. Heemskerck aber zeichnete auch eine Ansicht von oben: Man
       sieht auf den breiten Hals, die Riesenschultern, die Schenkel. Stieg er auf
       eine Leiter?
       
       Im Belvedere steht auch die Statuengruppe des Laokoon, der mit den
       Schlangen um das eigene Leben und das seiner Söhne kämpft. Heemskerck
       umrundete diese schon in der Antike berühmte Gruppe regelrecht, bis
       hinunter zu den Fußsohlen. Das wirkte bis in seine Darstellung der
       Geißelung Christi auf dem monumentalen Laurentius-Altar, der heute im
       schwedischen Linköping steht. Wie sich da Jesus lustvoll windet – nun,
       vielleicht ist doch was dran an einer auch sexualisierten Sicht auf die
       Kunst des Niederländers.
       
       Lust am Absurden 
       
       Für akademische Klassizisten des 18. und 19. Jahrhunderts waren solche
       verdrehten Werke jedenfalls ein Gräuel. Die [4][Postmoderne konnte mit
       ihrer Lust am Absurden] mehr mit Werken wie jener ausgestellten
       Heemskerck-Zeichnung anfangen, auf der eine Landschaft und [5][eine
       Stadtansicht zueinander kopfüber gestellt] zu sehen sind.
       
       Da denkt man dann doch, nicht im Stil, aber in der Haltung, an Bauten wie
       die 1984 eröffnete Neue Staatsgalerie von James Stirling, sogar an die
       verwirrende Vielperspektivität in Zeichnungen von ArchitektInnen wie Daniel
       Libeskind, Steven Holl oder Zaha Hadid.
       
       Absurderweise litt Heemskercks Anerkennung als Maler wohl gerade darunter,
       dass seine Zeichnungen so hoch geschätzt und schnell durch den Druck
       verbreitet wurden. Sie schienen die römische Wirklichkeit präzise
       abzubilden. Entsprechend wurde Heemskerck lange vor allem als Dokumentarist
       betrachtet. Das war er sicher auch, ein fulminanter sogar.
       
       Das Panorama-Blatt vom Forum Romanum zeigt, wie tief die antiken Bauten
       eingesunken waren in den Bauschutt der Nachantike – und inszeniert diese
       Reste zugleich als Zeichen der Vergänglichkeit des Menschen und seiner
       Kulturen vor Zeit und Gott. Im Zeitalter der beginnenden Reformation ein
       hochaktuelles Thema.
       
       Aber bis heute blieb ihm die Anerkennung verwehrt, die etwa einem anderen
       grandiosen [6][Rom-Zeichner, Giovanni Battista Piranesi], schon zu seinen
       Lebzeiten um 1770 sicher war: dass man genau dokumentieren und dabei doch
       Künstler sein kann, der auswählt, neu komponiert.
       
       Denn Heemskerck zeichnet nicht, wie es der Untertitel der Ausstellung
       behauptet, „die“ Stadt. Das byzantinische und mittelalterliche Rom etwa
       sind allenfalls im Hintergrund zu sehen. Der Maler zeichnet nur das, was
       aus seiner Sicht das moderne Rom begründen sollte: eine Stadt, die sich
       selbst aus dem Abfall alter Zeiten neu gründet.
       
       6 May 2024
       
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