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       # taz.de -- Parteitag der Berliner Grünen: Machtproben der Ultra-Realos
       
       > Bei ihrem Landesparteitag üben sich die Grünen in konstruktiver
       > Krawalllosigkeit. Die Gräben zwischen Linken und Ultra-Realos überbrückt
       > das nicht.
       
   IMG Bild: Einstimmig angenommen: der Antrag für den Kampf gegen Rechtsextremismus
       
       Berlin taz | Die Hauptstadt-Grünen bekennen sich weiterhin zur Umsetzung
       des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co enteignen“: Das ist eine der
       Botschaften, die am Samstag von ihrem Landesparteitag im Estrel-Hotel in
       Neukölln ausging. Und diese Botschaft ist keineswegs so selbstverständlich,
       wie sie zunächst klingt.
       
       Die Unterstützung für den erfolgreichen Vergesellschaftungs-Volksentscheid
       von 2021 sei ja schön und gut, aber das könne die Partei ja nun beenden,
       forderten die „Grüne Realos Mitte“, kurz „Gr@m“, bei dem Parteitreffen. Das
       war nicht weniger als ein Frontalangriff auf den im Berliner Landesverband
       traditionell starken linken und enteignungsfreudigen Parteiflügel.
       
       „Als Partei für Mieterinnen und Mieter müssen wir die Realitäten von heute
       anerkennen“, begründete Tarek Massalme aus dem Kreisverband Mitte für das
       umstrittene Ultra-Netzwerk „Gr@m“ vor den rund 150 Delegierten das von ihm
       beantragte Großreinemachen in Sachen „Deutsche Wohnen & Co enteignen“.
       
       ## Schwarz-rote Argumente in „Gr@m“-grün
       
       Massalme hatte sich schon in [1][seinem dazugehörigen Parteitagsantrag] auf
       „die finanziellen Risiken einer etwaigen Enteignung“ berufen. [2][Es
       drohten „untragbare Belastungen für den Berliner Landeshaushalt“] und
       „drastische Einsparungen an anderer Stelle“, umso mehr, „wenn zugleich die
       Mieten subventioniert werden sollten“, heißt es in seinem Papier.
       
       In seiner Rede auf dem Parteitag zauberte Massalme noch ein weiteres
       Argument aus dem Hut: „Vergesellschaftung dämpft keine Mieten, weil sie
       keine neuen Wohnungen schafft.“ In ähnlicher Weise haben sich bei vielen
       anderen Gelegenheiten so auch Senatschef Kai Wegner (CDU) und
       Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) geäußert.
       
       Zumindest der linke Flügel wollte beim Thema „Deutsche Wohnen & Co
       enteignen“ erwartbarerweise weder den Antrag noch die Verteidigungsreden
       auf sich sitzen lassen.
       
       Für die Parteilinken sagte Katrin Schmidberger, die wohnungs- und
       mietenpolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus: „Ja, die
       Rahmenbedingungen haben sich verändert, sie sind nämlich für die
       Mieter:innen noch schlimmer geworden. Das heißt, wir müssen handeln, und
       zwar mit allen Mitteln.“ Dazu gehöre auch die Vergesellschaftung der
       Wohnungsbestände profitorientierter Immobilienkonzerne.
       
       ## Linken-Antrag setzt sich durch
       
       Schmidberger brachte dann auch [3][einen eigenen Gegenantrag] ein, in dem
       sich der Landesverband der Grünen noch einmal klar für die Umsetzung des
       Volksentscheids von 2021 aussprechen sollte. „Die Berliner:innen haben
       schon eine lasche, unzuverlässige Regierung, [4][für die der Mieterschutz
       nur eine leere Worthülse ist], sie brauchen nicht auch noch so eine
       Opposition“, rief sie sichtlich angefressen Massalme und seinen
       Unterstützer:innen zu.
       
       Der Antrag Schmidbergers bekam in der folgenden Abstimmung per Handheben
       schließlich eine Mehrheit von mehr als 70 Stimmen. Zugleich votierten aber
       immerhin auch über 50 Delegierte für den Antrag der „Gr@m“-Gruppe um
       Massalme. Obgleich sich die Parteilinken damit klar durchsetzten: Eine
       überwältigende Absage an den Kurs der auf Landesparteitagen bislang
       weitgehend einflusslosen Ultra-Realos sieht anders aus.
       
       Der gut achtstündige Parteitag war das erste große Aufeinandertreffen der
       unterschiedlichen Flügel und Kreisverbände seit der [5][Chaos-Wahl einer
       neuen Landesspitze im Dezember vergangenen Jahres]. Zur Erinnerung: Die
       ursprüngliche Kandidatin des Realo-Flügels fiel durch – und das drei
       Wahlgänge hintereinander: Tanja Prinz aus dem Kreisverband
       Tempelhof-Schöneberg scheiterte derart krachend, dass sie am Ende unter
       Tränen den Saal verließ. Der Parteitag wurde unterbrochen. Auch der zweite
       Platz in der Doppelspitze, für den erneut Parteichef Philmon Ghirmai
       kandidierte, blieb dadurch vorerst unbesetzt.
       
       Bei einem nächsten Wahlgang mehrere Tage darauf holte mit [6][Nina Stahr
       aus Steglitz-Zehlendorf] eine Kandidatin der Realos zwar bereits im ersten
       Rutsch fast 90 Prozent der Delegiertenstimmen. Ghirmai wurde mit rund 74
       Prozent wieder gewählt. Die Nerven lagen dennoch blank. Hier die Linken und
       die gemäßigten Realos, zu denen Stahr gehört, dort „Gr@m“. Letztere hatten
       Prinz unterstützt und erklärten sich nach ihrer Niederlage zu Opfern
       hinterhältiger Diffamierungskampagnen.
       
       ## Aufarbeitung des letzten Chaos-Parteitags
       
       Landeschef Philmon Ghirmai sagte am Samstag, er und Nina Stahr hätten seit
       Dezember „sehr konstruktive“ Gespräche geführt. Er sei froh, dass die
       Berliner Grünen in der Lage seien, „das Geschehene aufzuarbeiten“. Was
       wiederum zeige: „Wir machen als Partei unsere Hausaufgaben und wir arbeiten
       mit einem gemeinsamen Willen und großem Respekt an uns und unseren
       Strukturen.“
       
       Tatsächlich versuchten sich die Delegierten im Estrel nach außen hin in
       Diszipliniertheit. Selbst die Debatte um „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ –
       so engagiert die Redebeiträge waren – lief nicht aus dem Ruder, wie nach
       den Erfahrungen beim Parteitag im Dezember durchaus zu vermuten war.
       
       Die Parteitagsregie hatte freilich auch ordentlich darauf hingewirkt, indem
       sie mit ihrem Leitantrag schwerpunktmäßig auf ein Thema setzte, das
       geeignet war, große Einigkeit herzustellen: der Kampf gegen AfD,
       Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus und
       Queerfeindlichkeit, dazu [7][ein konsequentes Vorgehen gegen
       Rechtsextremist:innen in Polizei], Justiz und Verfassungsschutz.
       Faktisch alles grüne Selbstverständlichkeiten.
       
       Trotzdem gab es im Vorfeld sogar hier parteiinternen Knatsch zwischen dem
       linken Flügel und den „Gr@m“-Leuten. Während die Ultra-Realos die Arbeit
       des Verfassungsschutzes über den grünen Klee lobten, forderten die Linken
       und gemäßigte Realos eine grundlegende Neuordnung der
       Sicherheitsarchitektur auf Landesebene.
       
       Nina Stahr erklärte in ihrer Rede, sie freue sich, dass es gelungen sei,
       die verschiedenen Positionen [8][in einem modifizierten Leitantrag]
       „zusammenzubinden“. Am Ende sei so „etwas wirklich Gutes“ rausgekommen.
       
       ## Effektive Alternative zum Verfassungsschutz
       
       „Es ist kein Geheimnis, dass wir den Verfassungsschutz kritisch sehen“,
       verdeutlichte Stahr noch einmal die Sichtweise des Landesvorstands, die
       genau so auch Eingang in die Neufassung fand. Das Lob des „unverzichtbaren
       Beitrags“ der Verfassungsschützer:innen, den „Gr@m“ unbedingt in den
       Leitantrag schreiben wollte, sucht man dafür vergebens.
       
       So werben die Grünen nun für eine „effektive Alternative als
       Weiterentwicklung der bestehenden Verfassungsschutzarchitektur“. Mit dem
       Wort „Alternative“ als freundliche Umschreibung für [9][Abschaffung des
       Verfassungsschutzes als Fernziel] könne er leben, sagte am Rande des
       Parteitags ein Vertreter des linken Parteiflügels zur taz.
       
       Konkret soll der Nachrichtendienst nach dem Willen der Landes-Grünen
       künftig in „zwei Säulen“ aufgespalten werden: ein unabhängiges Institut zum
       Schutz der Verfassung und ein von polizeilichen Aufgaben klar abgegrenzter
       nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz. Denn klar sei: In seiner
       jetzigen Form habe der Verfassungsschutz zu oft nicht funktioniert.
       
       Warum auch immer, „Gr@m“ revoltierte nicht. Der Leitantrag wurde ohne
       Gegenstimmen und bei nur vier Enthaltungen angenommen. Der Ausgang der
       Abstimmung über den Vergesellschaftungs-Volksentscheid zeigte gleichwohl
       eines: Der Samstag dürfte längst nicht das Ende der Debatte sein – und in
       der geht es um mehr als um den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co
       enteignen“. Es geht um Macht im Landesverband.
       
       5 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://berlin.antragsgruen.de/LDK24-1/motion/70099
   DIR [2] /Neues-Gutachten-zu-Enteignung/!5993681
   DIR [3] https://berlin.antragsgruen.de/LDK24-1/motion/70099/amendment/80617
   DIR [4] /Deutsche-Wohnen-Enteignen/!6003284
   DIR [5] /Chaos-bei-den-Berliner-Gruenen/!5976146
   DIR [6] /Gruenen-Chefin-Nina-Stahr/!5995017
   DIR [7] /Hunderte-Polizisten-unter-Nazi-Verdacht/!6002429
   DIR [8] https://berlin.antragsgruen.de/LDK24-1/Demokratie-sichern-Diskriminierung-bekampfen-61313
   DIR [9] /Sicherheit/!5065753
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rainer Rutz
       
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