URI: 
       # taz.de -- Neuer Roman von Rocko Schamoni: Als der König noch Sombrero trug
       
       > Neuer Mensch dank Punk: In Rocko Schamonis Roman „Pudels Kern“, der im
       > Hamburg der mittleren 1980er spielt, wird eine DIY-Musikszene wieder
       > lebendig.
       
   IMG Bild: Karamba, Karacho, Olé! Rocko Schamoni bei einem Konzert in Westberlin, 1987
       
       Rocko Schamoni, der neue Stern am Bierhimmel, sang … wie der sterbende
       Schwan unter einem Lastwagen.“ Ein schönes Zitat, es stammt aus dem Oktober
       1986 und war Teil einer taz-Rezension anlässlich eines Benefizkonzerts im
       Westberliner Tempodrom: Dort wurde Geld gesammelt für den „Wahren Heino“,
       ein Pseudonym des Kreuzberger Punks und Plattenhändlers („Scheißladen“)
       [1][Norbert Hähnel].
       
       Unter diesem Alias trat Hähnel in den 1980ern etwa im Vorprogramm der Dead
       Kennedys auf. Was dem anderen, berühmteren Heino nicht gefiel. Er verklagte
       „Scheißheino“ (taz). Weil Hähnel die Gerichtskosten nicht aufbringen
       konnte, drohte ihm damals Gefängnis. Glück im Unglück: 60.000 D-Mark wurden
       im Tempodrom eingespielt. „Berliner Heino sahnte ab“, titelte die Bild zum
       Happy-End.
       
       Der „Wahre Heino“ war nur Vorbote dessen, was als „Funpunk“ im
       Westdeutschland der Kohljahre Konjunktur hatte. Dem aktivistischen und
       musikalisch eher einfältigen Politpunk der frühen Achtziger wurde durch
       situativen Humor (Schlagerschmalz statt drei Akkorde) und Style-Verwirrung
       (Sombrero statt Nieten-Lederjacke) ein Bezugsdelirium zwischen US-TV-Trash
       und Heinz-Erhardt-Wirtschaftswunder-Ästhetik entgegengesetzt.
       
       ## Immer schön unorthodox
       
       Dies untergrub linientreuen Deutschpunk für einen kurzen Moment. Bands wie
       die Goldenen Zitronen, die Ärzte und diverse weitere machten denn auch an
       jenem Abend im Tempodrom Rabatz, um Hähnel zu unterstützen. Mittenmang der
       Hamburger Sänger Rocko Schamoni, der mit Mikrofon im Mund von der Bühne
       stürzte.
       
       Der „sterbende Schwan unter dem Lkw“ hat nun auch Eingang gefunden in
       Schamonis neuen autobiografischen Roman „Pudels Kern“. Schamoni ist zum
       Bestsellerautor geworden und tritt regelmäßig im Fernsehen auf (zuletzt
       etwa mit der „Rocko Schamoni Supershow“ in der ARD), während der Autor der
       Rezension, der ehemalige taz-Musikredakteur Thomas Böhm, in den 1990ern als
       Kolumnist einer Glosse über Hunde für das Berliner Boulevardblatt B. Z.
       tätig war und 2010 die rechtspopulistische Partei „Die Freiheit“ gründete.
       
       Schamoni spart sich vielleicht auch deshalb Böhms Autorennamen. Mit Rechten
       hatte er bereits in den 1980ern Begegnungen, wie die Schilderung einer
       Klopperei auf Sylt zeigt, bei der Schamoni und einige Freunde „Skins
       verarbeiten“ – wie es lakonisch heißt. Eine Wahlverwandtschaft zur
       herrlichen Drastik der Comicserie „Clever & Smart“ wird – nicht nur – an
       dieser Stelle evident.
       
       ## Nach den „Dorfpunks“
       
       Mit „Pudels Kern“ hat Schamoni die langerwartete Fortsetzung seines
       Debütromans „Dorfpunks“ geliefert. Nachdem er zuletzt eher „historische“
       Hamburg-Romane verfasste, ohne autobiografischen Bezug, handelt „Pudels
       Kern“ seine Jahre 1985 bis 1992 in der Hansestadt ab. Schamoni hatte damals
       die ostholsteinische Provinz hinter sich gelassen und war nach
       Hummel-Hummel übersiedelt.
       
       „Ankunft im Paradies“ ist ein frühes Kapitel betitelt, in dem es darum
       geht, wie er als Kriegsdienstverweigerer seinen Zivildienst bei der Pflege
       von Spastikern leistet, auf der „falschen“ Elbseite, in Finkenwerder.
       Leser:Innen erleben dabei die Häutung von Tobias Albrecht zu Rocko
       Schamoni. Der Alltag ist zwar mühsam und doch beschaulich, von ferne winken
       noch die Eltern, die Ablösung vollzieht sich nach und nach.
       
       Der Hamburger Punkszene eilte in Westdeutschland ein besonderer Ruf voraus.
       Bands wie Buttocks, Razors und Slime hatten proletarische Wurzeln und
       pflegten eine linksradikale Weltanschauung. Wobei die Sturm-und-Drang-Phase
       bereits abgeflaut war, als Rocko Schamoni ebendort andockte. Avantgarde war
       diese Szene nie, aber Mainstream war Punk nach der
       „geistig-moralischen“-Wende unter Kohl deshalb noch lange nicht.
       
       ## Düstere Jagdgründe mit elysischen Feldern
       
       Die Hamburger Jagdgründe Schanzenviertel und Sankt Pauli zeichnet der Autor
       düster, aber mit elysischen Feldern: Abgründe werden erst mal vom
       Zusammenhalt der Punkszene gepolstert. Schamoni kennt die Leute schon von
       den Fotos auf den Platten und merkt, dass sie – Ecce homo! – zugänglich
       sind.
       
       „Es gibt keine Hierarchien, keine Helden und Idole, alle tun zumindest so,
       als ob sie gleich seien.“ Am liebsten hängt Schamoni im „Totenschiff“ ab,
       einer Kneipe nahe beim Fischmarkt, in der er auf [2][die Musiker der
       frischgegründeten Goldenen Zitronen] trifft, die damals bevorzugt
       Schlafanzüge tragen und abends mit Stollenfußballschuhen ausgehen, als
       Statement gegen die Springerstiefel- und schwarze
       Motorrad-Lederjacken-Kluft. Wie die Zitronen beginnt auch Schamoni Musik zu
       machen, firmiert teilweise als King Rocko Schamoni.
       
       Sie eint, dass sie sich Hamburg erst zu eigen machen müssen. Und so
       entsteht mit „Schorsch“ und „der Ted“ (immer mit Artikel!) eine
       Freundschaft, die durch alle Höhen und Tiefen ihrer prekären
       Künstlerexistenzen bis zum Buchende bestehen bleibt. Sie erleben
       haarsträubende Lach- und Sachgeschichten, wobei Alphamännchen mit
       Machogehabe eher selten die Oberhand behalten, dafür sind die eigenen
       Klippen, wie sie etwa Schamoni umschiffen muss, viel zu zerklüftet.
       
       ## Das ist doch Quatsch!
       
       Der vermeintlich lockere Durchmarsch und das hohe Künstlerethos der ersten
       Punk/NdW-Generation, wie er kürzlich in einer Rezension in der FAZ gegen
       Schamonis angeblich belangloses Buch in Anschlag gebracht wurde – das ist
       doch Quatsch. Vielmehr kommt in „Pudels Kern“ zum Ausdruck, was Mitte der
       Kohl-1980er nicht mehr möglich ist: Aussteigen. Politik taucht eher am
       Rande auf. [3][Schamoni ist nicht teilnahmslos, aber das Rigorose vieler
       Zeitgenoss:Innen geht ihm ab].
       
       Ängste, Neurosen, der Albdruck von Jugend halten ihn oft im Schwitzkasten.
       Stärker, verlässlicher, weniger kindsköpfig sind die Frauenfiguren
       angelegt, „Frenchy“, „Susanne“, „Jette“, „Bernadette“, die zudem kaum Bohei
       um ihre Künstlerwerdung machen und tatkräftig helfen, Schamoni in der Spur
       zu halten. Anders als in der Generation zuvor lassen sie sich nichts mehr
       von den Mackern sagen.
       
       Der süße Vogel Jugend ist manchmal ein Spatz und pfeift nicht vom Dach,
       sondern aus dem letzten Loch. Vor allem den „Turboantrieb“ von Speed, der
       nach Abflauen zu Stottern, Lethargie und Depression führt, schildert
       Schamoni anschaulich. Rettend ist der Drang zur Kreativität, Musik machen,
       pausenlos mit anderen durch die Nacht ziehen, die frequentierten Kneipen
       dann irgendwann übernehmen.
       
       ## Lieber kein Opportunist
       
       [4][Schamoni scheitert zwar als Funpunkpopstar], weil er nicht
       opportunistisch genug ist, dafür wird er Geburtshelfer des „Pudel Club“ und
       gründet mit dem muffigen Inventar einer Secondhand-Boutique und
       rudimentären Tresenerfahrungen einen Ankerplatz der Subkultur.
       [5][„Schöner, spackiger Erfolg“ konstatiert er trocken]. Der Pudel ist
       inzwischen ein Mehrgenerationenprojekt und gehört zu den Sehenswürdigkeiten
       der Stadt.
       
       „Pudels Kern“ sei ein „Memorial unserer Freundschaft“, schreibt Schamoni zu
       Beginn, um die Echtheit der Erlebnisse zu bekräftigen. Ihm gelingt ein
       kleines Kunststück, indem er die abgefuckten 1980er wie ein
       „Feelgood-Movie“ auferstehen lässt, ohne sie dabei zu verraten.
       
       Als Erzähler wirkt er trotzdem nur bedingt verlässlich. „Alle … Ereignisse
       entspringen meiner subjektiven Erinnerung und meinen Aufzeichnungen aus
       Kalendern und Tagebüchern“, schickt er warnend voraus. Mit Proust zitiert
       Schamoni einen Belastungszeugen, der bekräftigt, wie anstrengend eine
       Künstlerexistenz subjektiv erlebt werden kann. „Wir genießen kunstvolle
       Musik …aber wir wissen nicht, was sie ihre Schöpfer an Schlaflosigkeit
       gekostet“ hat.
       
       Es gibt Schlimmeres, als dazu verdammt zu sein, solche Erlebnisse erneut zu
       schildern. Schamoni hat seine Jugend also nicht umsonst verschwendet.
       
       16 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Archiv-Suche/!547390&s=Norbert+H%C3%A4hnel&SuchRahmen=Print/
   DIR [2] /Neues-Album-von-Die-Goldenen-Zitronen/!5567207
   DIR [3] /Erinnerungen-an-Kuenstler-Heino-Jaeger/!5853308
   DIR [4] /Neues-Album-All-Ein-Rocko-Schamoni/!5879191
   DIR [5] /Portraet-einer-StPauli-Legende/!5994125
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
   DIR Rocko Schamoni
   DIR Roman
   DIR Punk
   DIR Filmreihe
   DIR Hamburger Schule
   DIR Punk
   DIR St. Pauli
   DIR Hamburg
   DIR Soundtrack
   DIR taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „No Wave“-Filmemacherin Beth B: Zurück zum Underground
       
       Das Silent Green widmet der Filmemacherin Beth B mit „Now Wave: Beth B –
       Glowing“ eine große Ausstellung und Retrospektive mit vielen Weltpremieren.
       
   DIR Werkschau Die Braut Haut ins Auge: Warum sie so laut singen konnten
       
       Nun kommt die fällige Werkschau der Frauenband Die Braut Haut ins Auge. Zur
       Hamburger Schule gehörte sie nie so ganz dazu.
       
   DIR „Dorfpunks“ am Landestheater S-H: Bunt provoziert nicht mehr
       
       Gute Unterhaltung: Auf den Bühnen des Schleswig-Holsteinischen
       Landestheaters sind Rocko Schamonis „Dorfpunks“ da gelandet, wo sie
       hingehören.
       
   DIR Historisierung der Hamburger Schule: Zurück an St. Paulis Tresen der 90er
       
       Im ausverkauften Hamburger Club Knust wurde über ein Buch und eine TV-Doku
       zur Hamburger Schule diskutiert – und auch ein bisschen gefeiert.
       
   DIR Porträt einer St.Pauli-Legende: „Musik ist wie Drogen, nur besser“
       
       Ulli Koch ist Putzkraft im Pudel Club auf St. Pauli. Er saß im Knast mit
       Konrad Kujau, trank Wodka mit Campino – und hat viel zu erzählen.
       
   DIR Neues Album „All Ein“ Rocko Schamoni: Die Welt voller Neugier beobachten
       
       Rocko Schamoni über Musik als Nebenprodukt der Pandemie, sinkende
       Zuschauerzahlen kleiner Clubs und die Aussicht auf Revolution.
       
   DIR Neues Album von Die Goldenen Zitronen: „Euer Karma ist eh längst versaut“
       
       Weniger Poltern, trotzdem mehr Dringlichkeit. Wie das geht, zeigt die
       Hamburger Band mit ihrem neuen Album „More Than a Feeling“.