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       # taz.de -- Supermarkt Initiative: Utopie für Anfänger
       
       > Unsere Autorin ist Mitglied eines genossenschaftlichen Supermarkts, lässt
       > beim Engagement aber andere vor. Ein Plädoyer fürs Trittbrettfahren.
       
   IMG Bild: In der SuperCoop in Berlin-Wedding
       
       Manchmal sitze ich an der Kasse, ziehe Artikel für Artikel über den Scanner
       und lebe eine besonders unscheinbare Utopie. Gelegentlich muss ich kurz bei
       meinem Gegenüber nachfragen: Ist das hier eine Pastinake oder eine
       Petersilienwurzel? Weißt du noch, welche Sorte Äpfel du genommen hast?
       Warte, ich halt die kleinen Tomaten kurz in der Hand, während du das Pesto
       in der Tasche verstaust, dann werden die da drunter nicht zerquetscht.
       
       Wir haben Zeit. Zumindest ein bisschen. Schon das ist eigentlich utopisch
       für eine deutsche Supermarktkasse. Und dann gehört uns der Laden auch noch.
       
       Die [1][SuperCoop in Berlin] ist ein genossenschaftlicher Supermarkt, den
       es seit fast zwei Jahren gibt. Wer hier einkaufen will, muss Mitglied
       werden. Das kostet einmalig 100 Euro für einen Anteil, plus eine kleine
       Verwaltungsgebühr. Und dann drei Stunden Arbeit im Monat. Die kann man
       kassierend verbringen oder mit Regaleinräumen, man kann im Mitgliederbüro
       bei der Verwaltung helfen, frischen Käse schneiden und abpacken, Videos für
       Social Media drehen, putzen oder Neulinge mit allen nötigen Infos
       willkommen heißen.
       
       Dafür ist fast alles günstig. Nicht unbedingt im Vergleich zu
       Sonderangeboten bei Discountern. Aber deutlich billiger als im Bioladen,
       und der Vergleich hinkt nicht, denn auch in der SuperCoop ist fast alles
       bio. Nur ganz vereinzelt findet sich zwischen vielen weißen Preisschildern
       ein blassrotes in den Regalen. „Ausnahmsweise nicht bio“ bedeutet das. Ein
       Grund dafür kann sein, dass es sich um ein besonders regionales Produkt
       handelt, wie das Bier der kleinen Brauerei direkt nebenan. In anderen
       Fällen soll es in einer tendenziell teuren Produktkategorie auch eine etwas
       preiswertere Option geben. Und (Bio-) Grundnahrungsmittel wie Nudeln,
       Linsen oder Mehl werden sowieso mit einer geringeren Gewinnmarge verkauft.
       Die erkennt man an blassgrünen Preisschildern.
       
       ## Standard oder Utopie?
       
       Die SuperCoop liegt im Stadtteil Wedding, wo wie überall im halbwegs
       zentralen Berlin mittlerweile [2][der Mietenwahnsinn um sich greift], aber
       noch nicht so lange wie in anderen Gegenden. Es gibt hier also immer noch
       ganz verschiedene Leute. Die sollen auch alle Mitglied werden können, wenn
       sie wollen. Wen der initiale Mitgliedsbeitrag abschreckt, der kann ihn auch
       in ganz kleinen Raten zahlen. Oder gar nicht, denn manche Mitglieder
       finanzieren Soli-Anteile.
       
       Was in die Regale kommt, entscheiden die Mitglieder gemeinsam. Am liebsten
       natürlich gesundes und leckeres Essen. Eigentlich ein ganz normaler Wunsch,
       und trotzdem nehmen Hunger und Mangelernährung weltweit wieder zu – auch in
       Deutschland. Auf drei Millionen [3][schätzte der Wissenschaftliche Beirat
       des Bundesagrarministeriums] im vergangenen Jahr die Zahl der Menschen
       hier, die sich eine gesunde Ernährung nicht leisten können. Also immer noch
       Utopie, die ganz normale Idee.
       
       Manchmal komme ich mir dabei aber wie eine schlechte Utopistin vor. Wenn
       wieder eine Email kommt, die den Termin des nächsten Mitgliedertreffens
       ankündigt, klicke ich sie schnell weg. Da habe ich nämlich bestimmt schon
       was vor. Die Wahrheit ist: Länger als drei Stunden im Monat kann ich
       wirklich keine Gedanken an einen Supermarkt verschwenden, selbst wenn es
       (auch) meiner ist. So viel Begeisterung bringe ich doch nicht auf.
       
       Andere können mehr Utopie 
       
       Es gibt zum Glück Leute, die das besser können. Die vier Gründerinnen
       natürlich, die so ein Projekt überhaupt in Angriff genommen und mitten in
       einer Pandemie eine mittlerweile fast 1.500-köpfige Community aufgebaut
       haben. Oder die vielen Mitglieder, die sich über ihre Schichten hinaus in
       Arbeitsgruppen zu allen möglichen Themen engagieren, um den Supermarkt zu
       einem noch cooleren Ort zu machen und etwa gerade ein kleines Café in einer
       Ladenecke aufgebaut haben.
       
       Aber zum Beispiel auch eine taz-Kollegin, die seit ein paar Monaten
       ebenfalls Mitglied ist und sogar bei der letzten Versammlung war. Davon
       kann ich nutznießen und weiß, was besprochen wurde. Unter anderem ging es
       darum, wie wir mit Personen umgehen, die so viele Schichten verpasst haben,
       dass ein Nachholen im Grunde aussichtslos ist. Irgendwann werden diese
       Mitglieder „eingefroren“, dürfen den Laden nicht mehr nutzen.
       
       Soll man nicht wieder zum aktiven Mitglied werden können, indem man pro
       ausgefallener Schicht einen Betrag zahlt? Nein, hat die Versammlung
       entschieden, obwohl einige dafür gewesen wären. Plot-Twist: Die Leute
       können stattdessen einfach so wieder kommen, es gab einen
       Schichtschuldenschnitt. Freikaufen für Gutverdienende und Ausschluss für
       alle anderen passt hingegen nicht zu uns. Macht das nicht Mut?
       
       Wahrscheinlich werde ich trotzdem weiter nur das Nötigste machen, ich gebe
       es zu. Aber vielleicht ist das gar nichts Schlechtes. Utopien brauchen auch
       diejenigen, die auf das Trittbrett des fahrenden Zugs aufspringen und
       mitfahren. Die SuperCoop zum Beispiel: Es waren keine 1.500
       Gründer*innen nötig und eine volle Besetzung bei jeder einzelnen
       Diskussion stelle ich mir fast hinderlich vor – aber langfristig brauchen
       wir ungefähr 1.700 aktive Mitglieder, die monatlich 110 Euro im Supermarkt
       ausgeben, damit sich der Laden trägt. Leute, die Dienst nach Vorschrift
       machen und ansonsten einfach nur ihren Einkauf erledigen.
       
       Dass daraus viel wachsen kann, zeigen die Vorbilder der SuperCoop aus
       anderen Ländern. In Paris gibt es seit 2017 den Supermarkt La Louve, der
       nach dem gleichen Modell arbeitet. Und in der Park Slope Food Coop in New
       York, die seit 1973 und damit mehr als ein halbes Jahrhundert existiert,
       machen schon 17.000 Menschen mit.
       
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       18 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fairer-Supermarkt-in-Berlin-Wedding/!5841266
   DIR [2] /Marktbericht-2023-des-BBU/!5993678
   DIR [3] https://www.bzfe.de/service/news/aktuelle-meldungen/news-archiv/meldungen-2023/maerz/ernaehrungsarmut-unter-pandemiebedingungen/
   DIR [4] https://q5kf46ry.sibpages.com/
       
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