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       # taz.de -- Identitätspolitik beim Buchpreis: Kann Spuren von Urteil enthalten
       
       > Ronya Othman und Juliane Liebert werfen einer Buchpreis-Jury vor, nach
       > Herkunft des Autors geurteilt zu haben. Und machen dabei selbst einen
       > Fehler.
       
   IMG Bild: Dem Unheil auf der Spur
       
       Als Journalistin muss ich ziemlich viel Finger still halten. Was von dem,
       was ich weiß, mache ich öffentlich? Was löse ich aus? Wer geht als
       Verlierer*in vom Platz?
       
       Seit einiger Zeit aber geht es in unserer Branche zu wie im Boulevard: als
       Whistleblowing um der höheren Werte willen, wird aus privaten Nachrichten
       oder halbprivaten Unterhaltungen ungefragt zitiert. Aus dem Geheimnisverrat
       von Insidern staatlicher Apparate ist das Verpfeifen von Kolleg*innen
       geworden. Das Private ist politisch. Recherche ist boomer.
       
       Es ist die #metooisierung der politischen Debatte, die auf Reaktion in
       sozialen Medien zielt: „Kenn ich“, „Genau so!“, „Kotzsmiley“, „Hab es echt
       satt“, „Galgenemoji“.
       
       Die Autor*innen Ronya Othman und Juliane Liebert haben das nun leider
       auch getan. [1][Sie werfen der Jury des HKW (Haus der Kulturen der Welt)
       und deren Leitung vor], in der Auswahl für den Internationalen
       Literaturpreis 2023 keine literarischen Kriterien, sondern politische
       angewendet zu haben, konkret: Herkunft und Hautfarbe.
       
       ## #metooisierung der politischen Debatte
       
       Was ein überfälliger Beitrag über die Rolle identitätspolitischer Kriterien
       im literarischen Jurybetrieb hätte werden können, ist leider verunglückt.
       Um den Befund zu beweisen, zitieren sie unnötigerweise Aussagen von
       Kolleg*innen der Jury, die nicht öffentlich arbeitet. Jurymitglieder
       werden anonym zitiert. Die Zitierten wurden nach eigenen Angaben vorher
       nicht mal informiert. Das ist seitens der Autor*innen unkollegial und
       journalistisch unanständig.
       
       Vorausgesetzt ihre Darstellung stimmt, hätten die beiden Autor*innen
       natürlich trotzdem sehr recht mit ihrer Empörung. Belege für ihre
       Behauptung, ihre Erfahrung sei kein Einzelfall, bringen sie allerdings
       nicht. Glaubhaft ist es natürlich, denn allzu oft wird heute Kunst, auch
       Literatur, so behandelt wie eine Tomate: Bevor wir sie kaufen, schauen wir
       uns die Deklaration ihrer Herkunftsregion an und kontrollieren, ob sie
       garantiert pestizid- und glutenfrei ist. Auf den Klappentexten der Romane
       wird das Deklarationsetikett mit Herkunftsland geklebt und mit dem Verweis
       auf „postmigrantisch“ politisch korrekte Literatur garantiert.
       
       Identität ist zur Leitwährung für kulturelles Kapital geworden. Mir aber
       drängt sich eine andere Frage auf: Jenseits der Kritik an
       identitätspolitischen Kriterien – wie können die beiden Autor*innen von
       sich behaupten, dass sie als Einzige in der Jury mit rein literarischen
       Kriterien aus rein literarischen Motiven heraus die Texte bewertet haben?
       
       ## Niemand ist frei von Urteilen
       
       Ich bin selbst Mitglied einer Jury, die den [2][Kurt-Tucholsky-Preis für
       literarische Publizistik] verleiht. Ich stolpere in dieser Funktion
       eigentlich permanent über meine eigenen Füße, ertappe mich dabei, mit
       Vorurteilen an die Bücher heranzugehen, frage mich, wie ich das abstellen
       kann, wie ich unter Kolleg*innen dastehe, wenn ich für diesen oder jene
       Autor*in abstimme. Frage mich, ob ich das Buch nur deswegen so scheiße
       finde, weil mich das Social-Media-Verhalten des Autoren gruselt oder weil
       er mal einen Meinungsbeitrag veröffentlicht hat, den ich politisch
       unterirdisch fand.
       
       Und selbstverständlich laufen die Diskussionen auch in unserer Jury
       irgendwann immer genauso unpolitisch wie die über den ESC-Entscheid. Sind
       Jurys, die „objektiv“ über Kulturbeiträge zu richten haben, angemessen?
       Niemand ist frei von Vorurteilen, eigenem Geschmack und völlig unabhängig
       in seinem Urteil. Ich jedenfalls kann mir das Etikett „garantiert gluten-,
       äh, vorurteilsfreie Richterin für die Kunst“ nicht ankleben.
       
       Auf den Etiketten von Tomaten fehlt eine Angabe: Ob die Arbeitsbedingungen
       für die Menschen, die sie gepflanzt, geerntet und verpackt haben, den
       Regeln von Mindestlohn, Arbeitszeit und Würde entsprachen. Auf den
       Deklarationsetiketten der Jurys fehlt der Hinweis: Kann Spuren von
       subjektivem Urteil enthalten.
       
       17 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zeit.de/2024/22/literaturpreis-jury-abstimmung-insider-macht-weltanschauung
   DIR [2] https://tucholsky-gesellschaft.de/kurt-tucholsky-preis/die-jury/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
       ## TAGS
       
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