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       # taz.de -- Berichterstattung über ESC: Keine Frage des Geschmacks
       
       > Vergangene Woche hat mit Nemo eine nicht-binäre Person den ESC gewonnen.
       > Der Sieg verdeutlicht, wie queerfeindlich unsere Gesellschaft weiterhin
       > ist.
       
   IMG Bild: Nemo aus der Schweiz hat in Malmö abgeräumt
       
       „I went to hell and back, To find myself on track, I broke the code“, sang
       Nemo am vergangenen Samstag in Malmö und gewann mit der Performance zum
       [1][Song „The Code“] den ESC. Nemo ist nichtbinär, identifiziert sich also
       weder als Mann noch als Frau, und bricht so wirklich mindestens einen Code.
       Den der binären Geschlechtsidentität. Entweder „männlich“ oder „weiblich“
       funktioniert nicht mehr.
       
       Der ESC ist ein guter Ort, um Codes zu brechen. Im Jahr 1998 gewann mit
       Dana International erstmals eine trans Frau den Wettbewerb. Und spätestens
       seit dem [2][Sieg von Dragqueen Conchita Wurst 2014] ist der Songcontest
       das alljährliche Großereignis queerer Popkultur in Europa.
       
       Nemos Sieg könnte also einfach gefeiert werden – nicht nur im musikalischen
       Sinne, sondern auch als ein weiterer Schritt in puncto Sichtbarkeit und
       Empowerment von nichtbinären, trans* und inter* Menschen.
       
       Doch Nemo schlägt seit Samstag nicht nur Liebe, sondern auch
       Diskriminierung entgegen – und das keineswegs nur aus reaktionären Kreisen.
       In der Berichterstattung ([3][auch in der taz]) wurden falsche, nämlich
       männliche, Pronomen genutzt. Über Nemos Identität wurde sich mit
       Clownfisch-Anspielungen lächerlich gemacht.
       
       ## Drittes Geschlecht in der Schweiz
       
       Und auch in sozialen Medien finden sich nach Nemos Sieg allerlei
       abschätzige Kommentare wieder. Nach Kritik daran verharren viele in
       oberflächlichen Sprachanalysen, als wären die Pronomen eines Menschen vom
       persönlichen Geschmack abhängig. Vergessen wird dabei, worum es eigentlich
       geht: Antidiskriminierung und Gleichbehandlung.
       
       Um die zu erreichen, braucht es Gesetze. Das weiß auch [4][der frisch
       gekürte ESC-Star]. Nur kurz nach dem Sieg rief Nemo noch den Schweizer
       Bundesrat und Justizminister Beat Jans an, um die Einführung des dritten
       Geschlechts in der Schweiz zu fordern. 2022 war ein Vorstoß dazu vom
       Bundesrat abgelehnt worden mit der Begründung, „die Schweiz sei noch nicht
       bereit dafür“.
       
       Doch nun läuft die Debatte wieder an. Im Aufwind des Schweizer Siegs zeigen
       sich Politiker*innen wie Jans oder Sibel Arslan gesprächsbereit, in
       konservativen Zeitungen wird hingegen haareraufend gefragt, was Mann und
       Frau dann überhaupt noch ausmache.
       
       ## Wer missgendert, trifft eine Entscheidung
       
       Doch Gesetze allein sind auch nicht die Lösung. In Deutschland gibt es die
       [5][dritte Geschlechtsoption „divers“ seit 2018]. Sie ermöglichte es
       anfangs nur Inter*-geschlechtlichen Personen nicht mehr mit der
       Geschlechtsidentität „Mann“ oder „Frau“ zugeschrieben zu werden, wenn sie
       sich damit nicht identifizieren. Mit der [6][Verabschiedung des
       Selbstbestimmungsgesetzes 2024] ist das seit diesem Jahr auch für trans*
       und nicht-binäre Menschen möglich. Denn, das sagt das Allgemeine
       Gleichbehandlungsgesetz, abgeleitet vom Grundgesetz: Niemand darf aufgrund
       des Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden.
       
       Das scheint noch nicht bei allen durchgedrungen zu sein. Die Reaktionen auf
       Nemos Sieg zeigen, dass noch immer viel Unwissen und Falschwissen über
       non-binäre, trans* und inter* Lebensrealitäten herrscht. Und klar, fehlende
       Berührungspunkte im Alltag können eine Ursache sein, warum manche noch nie
       gewisse Pronomen wie beispielsweise „dey“ gehört haben oder nicht wissen,
       dass einige Menschen alle oder, wie beispielsweise Nemo, keine Pronomen
       benutzen.
       
       Doch Unwissen entschuldigt nicht alles, denn wer missgendert, trifft nicht
       nur eine Entscheidung über Sprache. Wer missgendert, wertet ab,
       signalisiert, das Gegenüber nicht als gleichwertig zu verstehen oder ernst
       zu nehmen – kurz: Wer missgendert, diskriminiert.
       
       ## Unwissenheit ist keine Ausrede
       
       Sprache findet nicht im luftleeren Raum statt, sie kommuniziert die eigenen
       Entscheidungen, Einstellungen und Werte. Und für die eigenen Entscheidungen
       kann man verantwortlich gemacht werden. Nachfragen und Fehler machen ist
       okay. Allein deshalb, weil nicht alle Menschen die gleichen Zugänge haben,
       um an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen. Doch sich diesen Diskursen
       zu verwehren – ob aus Faulheit oder Unwillen – ist nicht okay.
       
       Vor allem Journalist*innen tragen eine besondere Verantwortung. Ihre
       Aufgabe ist es, präzise, sensibel und diskriminierungsfrei mit Sprache
       umzugehen, dazu gehören auch Pronomen und Selbstbezeichnungen. Und
       Unwissenheit funktioniert hier erst recht nicht als Ausrede. Warum sollte
       man über [7][Nicht-Binarität] schreiben oder einen Text darüber
       verantworten, wenn man nicht genug darüber weiß? Das wäre für eine*n
       Journalist*in in keinem anderen Fachbereich akzeptabel.
       
       Wie in vielen Fällen bleibt die Aufklärungs- und Antidiskriminierungsarbeit
       über den medialen Umgang mit Geschlechteridentitäten am Ende vorrangig bei
       queeren Menschen hängen. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten, sich dieses
       Wissen selbst anzueignen.
       
       ## Dennoch ein Erfolg
       
       Vergangene Woche ist Nemo nicht nur über Nacht zum Musik-Star geworden,
       sondern auch zu einer Projektionsfläche der Polarisierung über
       Geschlechter, Körper und Macht. Bleibt zu hoffen, dass Nemo nicht nur mit
       Musik erfolgreich ist, sondern auch mit dem Einsatz für mehr Rechte für
       queere Menschen. In der Schweiz und andernorts.
       
       Einen Erfolg gibt es schon jetzt: Nemos Sieg hat dazu geführt, dass
       sicherlich mehr Menschen als vorher wissen, was sich hinter Nicht-Binarität
       versteckt. Wir sollten zwar schon weiter sein, aber es ist ein Anfang.
       
       17 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=kiGDvM14Kwg
   DIR [2] /Oesterreich-nach-dem-ESC/!5042544
   DIR [3] /ESC-2024/!6009688
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=CO_qJf-nW0k
   DIR [5] /Dritte-Geschlechtsoption/!5558793
   DIR [6] /Bundestag-beschliesst-Gesetz/!6004179
   DIR [7] https://www.transinterqueer.org/themen/nicht-binaer/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Amelie Sittenauer
   DIR Annika Reiß
       
       ## TAGS
       
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