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       # taz.de -- Klima und Degrowth: Wie wir über uns hinauswachsen
       
       > Wenn die Wirtschaft stagniert, ist das erst mal gut fürs Klima – aber
       > viele Menschen leiden unter finanziellem Druck. Was hilft langfristig?
       
   IMG Bild: Wohin soll die Wirtschaft wachsen – und soll sie überhaupt?
       
       Eine schwache Wirtschaft ist gut fürs Klima – zumindest kurzfristig. Das
       lässt sich in der globalen CO2-Statistik beobachten. Die Emissionen sinken
       immer dann, wenn es der Wirtschaft schlecht geht – etwa inmitten der
       globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 oder während der
       Corona-Pandemie, als Lieferketten gestört waren und Fabriken stillstanden.
       
       Auch [1][dass Deutschland 2023 seine Emissionen gegenüber dem Vorjahr um 10
       Prozent senken konnte], lag unter anderem an der schwachen Wirtschaft: Die
       Industrie produzierte weniger und verbrauchte dadurch weniger fossile
       Energie.
       
       Nun haben die Wirtschaftsweisen [2][in ihrem Frühjahrsgutachten] verkündet,
       dass sich die „Erholung der deutschen Wirtschaft“ weiter verzögert. Auf
       kurze Sicht mag das dem Klima nützen – allerdings auf Kosten der Menschen,
       die unter der unsicheren Wirtschaftslage leiden. Langfristig könnte nur ein
       anderes Wirtschaftssystem ohne Wachstum auskommen.
       
       Bisher ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland zwar nur ein wenig
       angestiegen, was unter anderem mit dem Fachkräftemangel zusammenhängt. Eine
       länger anhaltende Flaute würde das aber wohl ändern. Denn wenn wir im
       Kapitalismus zu wenig konsumieren, verlieren Menschen ihre Jobs.
       
       ## Stagnierende Wirtschaft führt in die Krise
       
       Das hängt unter anderem damit zusammen, dass vor allem große Unternehmen
       ständig versuchen, ihre Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Dadurch senken die
       Unternehmen ihre Kosten und können preislich besser mit anderen Unternehmen
       konkurrieren.
       
       Das bedeutet auch: Bleibt die Wirtschaft auf einem Level, verlieren
       Menschen ihre Arbeit. Und wenn Menschen ihre Arbeit verlieren, können sie
       weniger Dinge kaufen. Die Nachfrage geht zurück, auch andere Unternehmen
       kommen ins Straucheln – eine Abwärtsspirale. Mit Blick auf das große Ganze
       bedeutet das, dass die Wirtschaft wachsen muss, damit Menschen ihre Jobs
       behalten.
       
       Weil das so ist, stützt sich die Politik auf die Hoffnung des grünen
       Wachstums. Die Idee: Wir müssen nichts am System verändern – sondern können
       Wirtschaftswachstum klimaneutral machen. Wenn die Wirtschaft wächst,
       während die Emissionen sinken, sprechen Expert*innen von absoluter
       Entkopplung.
       
       Das lässt sich in einigen, vor allem reicheren Ländern beobachten – unter
       anderem auch in Deutschland. Das Problem: Die Emissionen sinken nicht
       schnell genug. Eine Studie, die im vergangenen Jahr im Fachjournal The
       Lancet Planetary Health veröffentlicht wurde, identifizierte 11 Länder im
       Globalen Norden, die zwischen 2013 und 2019 absolute Entkopplung
       erreichten. Würden sie die Emissionen in der gleichen Geschwindigkeit wie
       bisher reduzieren, würde es bis zur Klimaneutralität aber im Schnitt rund
       220 Jahre dauern.
       
       Wer auf grünes Wachstum setzt, argumentiert so: Erneuerbare Energien und
       neue Technologien werden uns dabei helfen, die Emissionen einer wachsenden
       Wirtschaft schnell genug zu reduzieren.
       
       Kritiker*innen widersprechen und begründen das so: Viele Technologien
       sind noch weit von der Marktreife entfernt und werden nicht in dem Maß
       verfügbar sein, die eine immer weiter wachsende Wirtschaft bräuchte.
       Außerdem verbrauchen auch klimafreundliche Technologien Rohstoffe – deren
       Abbau immer wieder den Lebensraum von Pflanzen, Tieren und Menschen
       zerstört.
       
       Die meisten Vertreter*innen von Green Growth und Degrowth sind sich
       einig darin, dass wir einen schnellen Ausbau erneuerbarer Energien und
       Speicher brauchen sowie Technologien, um die Wirtschaft klimaneutral zu
       machen.
       
       ## Umbau der Wirtschaft und Arbeitsplätze
       
       Die einen sind sicher, dass durch den Umbau mindestens so viele neue
       Arbeitsplätze entstehen, wie in anderen Branchen wegfallen. Die anderen
       gehen davon aus, dass sich unsere Wirtschaft auf einem niedrigeren
       Produktions- und Konsumlevel einpendeln würde – mit potenziell weniger
       Erwerbsarbeit für alle.
       
       Momentan dreht sich in der Diskussion immer noch viel darum, was wir auf
       der Nachfrageseite verändern müssten – weniger Autofahren, weniger Fliegen,
       weniger Dinge kaufen. Umgekehrt müssen wir weiterdenken, was das für das
       System bedeuten würde. Was wäre, wenn sich die Autoindustrie oder die
       Flugindustrie massiv verkleinern würde? Politiker*innen würden eher
       zulassen, dass die Emissionen immer weiter steigen, als dass Millionen von
       Menschen ihre Arbeit verlieren.
       
       ## Eine Wirtschaft, die nicht wachsen muss
       
       Wie kann also ein System aussehen, das zulassen würde, dass die Produktion
       zurückgeht? Zunächst bräuchte es groß angelegte Umschulungen für Menschen,
       die in Branchen arbeiten, die sich kaum oder gar nicht klimaneutral machen
       lassen.
       
       Wir brauchen dringend Fachkräfte, die Busse und Züge in einem weiter
       ausgebauten öffentlichen Nahverkehr fahren, die Häuser dämmen, Wärmepumpen
       produzieren und einbauen, Transformationsprozesse moderieren und alte
       Menschen pflegen. Attraktive, gut bezahlte Umschulungen und Weiterbildungen
       können Arbeitskräfte aus klimaschädlichen Branchen in die Bereiche ziehen,
       die wir für die Transformation brauchen.
       
       Würde sich die Wirtschaft insgesamt auf einem niedrigeren Level einpendeln,
       könnten wir über alle Branchen hinweg die Arbeitszeiten verkürzen. Trotz
       weniger Arbeit würde dadurch also die Arbeitslosigkeit nicht steigen.
       Außerdem bliebe mehr Zeit für unbezahlte Care-Arbeit, also beispielsweise
       die Erziehung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen. Das würde auch
       die bezahlte Care-Arbeit entlasten, etwa in Kindergärten, Krankenhäusern
       oder Heimen.
       
       Um all das zu finanzieren, bräuchte es massive öffentliche Investitionen.
       Die ließen sich zum einen durch höhere Vermögen- und Erbschaftsteuern
       finanzieren sowie durch höhere Steuern auf klimaschädlichen Konsum. Zum
       anderen könnte der Staat deutlich mehr ins Defizit gehen, als er es
       momentan tut – mit einer [3][Reform der Schuldenbremse].
       
       Solch ein Umbau wäre herausfordernd und alles andere als leicht umzusetzen.
       Aber wäre es nicht schön, wenn sich zur Abwechslung mal Mensch und Natur
       erholen könnten – anstatt der Wirtschaft?
       
       20 May 2024
       
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