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       # taz.de -- Geschichte von Punk in der DDR: Und das Treibholz nimmt uns mit
       
       > In der Langspielplatte „eNDe – DDR von unten“, 1983 in Westberlin
       > veröffentlicht, steckte die Geschichte von Punk in der DDR. Eine
       > Rekapitulation.
       
   IMG Bild: Zwitschermaschine in der Schauspielschule Berlin, 1982. Zu sehen sind Cornelia Schleime, Wolfgang Grossmann und Ralf Kerbach
       
       Punk war für Cornelia Schleime das Zerbrechen der Form. Zugleich war Musik
       für die Malerin ein alternatives Ausdrucksmittel. „Der Grund, überhaupt
       eine Band zu machen, war, dass wir aufgrund einer Ausstellung, die wir noch
       während des Studiums gemacht hatten, Ausstellungsverbot bekamen. Da haben
       wir uns gefragt, was haben wir denn in der DDR noch für eine Zukunft, wenn
       wir nicht mal ausstellen dürfen? Du willst ja mit deinen Aggressionen auch
       nach außen. Das Medium Musik war genau richtig, um unserem Frust Luft und
       Platz zu verschaffen“, erzählte Schleime dem Dichter und Sänger Bert
       Papenfuß vor einigen Jahren.
       
       Mit ihrem Malerkollegen Ralf Kerbach, der eine Gitarre besaß, sich einen
       Kofferverstärker kaufte und ihn in sein Atelier stellte, [1][gründete
       Schleime 1979 den Nukleus] einer Band, die mal Ende hieß, mal Schwarz-Weiß
       und mal ganz anders. Unter dem Namen Zwitschermaschine ging sie in die
       Popgeschichte ein. Zwitschermaschine bespielte die erste Seite der 1983 in
       Westberlin veröffentlichten LP „eNDe. DDR von unten“. Auf Seite zwei
       befanden sich Stücke der Thüringer Punkband Schleim-Keim, die hier unter
       dem Tarnnamen Sau-Kerle firmierte.
       
       Diese „Schallplatte mit 2 Gruppen und Textbeilage“ war die erste
       Veröffentlichung von DDR-Undergroundbands auf Vinyl, sie blieb es für lange
       Zeit. Denn diese Bands waren Underground im wahrsten Sinne des Wortes. Sie
       verweigerten die offizielle „Einstufung“ durch die DDR-Behörden, sie wurden
       von Volkspolizei und Stasi schikaniert und bespitzelt, durften nur privat
       oder im Rahmen der Kirche auftreten und konnten ihre Musik nur auf
       Kassetten veröffentlichen. Wer eine falsche Zeile sang, ging ins Gefängnis.
       
       Das Interview, das Papenfuß mit Schleime und Kerbach führte, ist in
       „Magnetizdat DDR“ erschienen, einem von Alexander Pehlemann, Ronald Galenza
       und Robert Mießner im vergangenen Jahr herausgegebenen Sammelband. Das Buch
       widmete sich unter anderem der zum Teil immer noch im Dunkeln liegenden
       Entstehungsgeschichte von „eNDe“. Diese ist auch deswegen so faszinierend,
       weil manches nicht seinen Weg auf die Platte fand: Die Songs der Berliner
       Band Rosa Extra und die Texte, die Michael Rom für Zwitschermaschine
       schrieb und sang.
       
       ## Den „Scheißhaufen DDR“ zerlegen
       
       Schleim-Keim spielen darauf rabiat-räudigen Punk, sehr einfach, aber voller
       Wucht. Cornelia Schleime hat deren Schlagzeuger „bewundert, der durch sein
       Gedresche den ganzen Scheißhaufen DDR zerlegen wollte“. Die Texte, die der
       schon vor fast zwanzig Jahren in der Psychiatrie verstorbene Sänger Dieter
       „Otze“ Ehrlich aus seinen Eingeweiden herauspresste, erzählten nichts
       anderes: „Du bist zur Norm geboren. Schaffst du keine Norm, bist du hier
       verloren.“ Das Gegenprogramm hieß: „Untergrund und Anarchie, Untergrund ist
       stark wie nie.“ Kaum war „eNDe“ erschienen, [2][klopfte die Erfurter Stasi
       bei Schleim-Keim] an. Das focht Otze nicht an, selbst wenn er in U-Haft
       saß, dirigierte er die Geschicke seiner Band.
       
       Henryk Gericke hat in seinem erst vor Kurzem erschienenen Buch „Tanz den
       Kommunismus“, das [3][einige Dutzend Punkbands der DDR in so prägnanten wie
       lustigen Texten vorstellt], Otze ein Denkmal gesetzt: „Seine
       Unberechenbarkeit; seine Hand am Degen; sein politisches Bewusstsein bei
       bewusster Verhöhnung von Moral; seine autoritären Züge bei gleichzeitiger
       Verachtung jeder Autorität; die Dunkelheit seines Gemüts; seine diffuse
       Spiritualität; seine bezeugte Scheu; sein Hass, der vielleicht Weltschmerz
       war; sein schweres Herz ohne Güte, sein Piratentum; sein absoluter
       Ausdruckswille  – waren gepaart mit vollkommener Hingabe und Talent.“
       
       Otze galt in der DDR als asozialer Staatsfeind, die Staatsmacht setzte ihn
       unter Druck, für sie zu arbeiten. „Otze sehnte sich nach Freiheit und
       Würde. Er wollte seine Musik machen und anständig leben. Das wurde ihm in
       der DDR verwehrt“, schreibt Frank Willmann in seinen Erläuterungen zu den
       Schleim-Keim-[4][Songcomics], die unter dem Titel „Betreten auf eigene
       Gefahr“ erschienen sind. „Anderthalb Jahre arbeitete er als Bullen- und
       Stasispitzel. Allerdings behielt er diese fiese Anstellung, die ihm sogar
       ab und an Geld einbrachte, nicht lang, zu groß war der Unfug, den er allen
       Genossen der Sicherheitsorgane bei den Geheimgesprächen auftischte.“
       
       Das konnte man von [5][Sascha Anderson nicht behaupten], der laut eigenem
       Bekunden der Stasi alles erzählte: „Es gab tatsächlich nichts, worüber ich
       nicht mit denen gesprochen hätte.“ Der eitle Anderson dachte ein Spiel mit
       der Stasi zu spielen, deren Mitarbeiter er nicht für voll nahm, was ihn
       aber nicht davon abhielt, den Genossen seine postmodernen Theorien zu
       referieren. Anderson hatte sich machtbewusst einen Platz als dritter Sänger
       von Zwitschermaschine erobert.
       
       ## Satellit und Killersatellit
       
       Er organisierte erfolgreich Konzerte für die Band, die er dann hin und
       wieder sabotierte, indem er seinen Führungsoffizieren davon erzählte.
       Passenderweise lautet der Refrain des ersten Stücks von Zwitschermaschine
       auf „eNDe“ so: „Jeder Satellit hat einen Killersatelliten.“ Anderson war
       Satellit und Killersatellit in einem.
       
       Bis auf einen sind alle Texte von Zwitschermaschine auf „eNDe“ von
       Anderson. Cornelia Schleime braucht in ihrem nur zwei Zeilen, um einen
       psychedelischen Sog zu erzeugen: „Übern Fluss das andre suchen und das
       Treibholz nimmt uns mit.“
       
       Sie war die erste Sängerin der Band gewesen, als sie mit Ralf Kerbach zu
       spielen begann. Bald fragte das Duo Matthias Zeidler, ob er nicht Bass
       lernen wolle. Wolfgang Grossmann übernahm den Job des Schlagzeugers.
       Schließlich kam Michael Rom dazu. Neben Cornelia Schleime sang er seine
       eigenen Texte. Wie das klang und aussah, beschreibt Wolfgang Grossmann in
       seinem „Magnetizdat“-Beitrag: „Michael Rom tritt vor, fixiert das Mikrofon,
       dann schreit er: ‚Die Wochen kriechen dahin … die Jahre verfliegen im Wind.
       Der Buhmann geht um.‘“
       
       Rom brachte laut Schleime die Modernität und Coolness von New Wave in die
       Band und konnte auf der Bühne sekundenschnell von Introvertiertheit in
       extreme Extrovertiertheit fallen. Grossmann schreibt: „Rom hält eckig mit,
       seine Hände zucken, er gebärdet unverständliche Gesten. ‚Begießen,
       begreifen … abzäunen, abpfählen werd ich meinen Garten … abpflöcken,
       lokalisieren … Begrenzung.‘ Blickkontakt mit allen.,Das ist der Begriff.'
       Und peng ist mit dem Doppel-f das letzte Achtel verheizt, der Song bricht
       ab, die Musik ist weg.“ Michael Rom starb 1991 bei seiner Arbeit als
       Nachtportier. Sein Fall, der als Raubmord gilt, ist unaufgeklärt geblieben.
       
       ## Die Musik so eckig
       
       Man kann auf „eNDe“ eine Ahnung vom originalen Zwitschermaschine-Sound
       bekommen, sie klingt ganz im Stil der Zeit wie eine No-Wave-Band. Die Musik
       ist so eckig wie Roms Bewegungen, aber auch funky und psychedelisch. Warum
       darauf kein Lied von Michael Rom zu hören ist, bleibt weiterhin unklar.
       Alexander Pehlemann zeichnet die Genese von „eNDe“ unter anderem mithilfe
       einer bis dahin nicht erschlossenen Stasiakte zum Operativen Vorgang
       „Boheme I“ nach, was sich wie ein Krimi liest und die Politik des
       Stasi-Staats gegenüber als feindlich eingestuften Individuen und Bewegungen
       exemplifiziert.
       
       Die Idee für „eNDe“ war entstanden, weil Dimitri Hegemann, der später das
       Atonal-Festival erfand und den Technoclub Tresor mitgründete, sich für Punk
       im Osten interessierte. Er konnte Karl-Ulrich Walterbach dafür begeistern,
       der mit seiner Plattenfirma bereits einige wegweisende Kompilationen und
       Punkalben aus dem Westen veröffentlicht hatte, unter anderem das erste
       Album [6][von Slime aus Hamburg]. Walterbach war Anarchist, er hasste das
       kapitalistische System des Westens genauso wie das stalinistische des
       Ostens und wollte die Punks in der DDR unterstützen. Recht bald aber ließ
       die Stasi die beiden Westberliner nicht mehr einreisen.
       
       Laut Pehlemann war Walterbach dafür verantwortlich, dass keins der Lieder
       Roms auf „eNDe“ erschienen ist. Liest man die Statements von Schleime und
       Grossmann, scheinen sie eher Anderson im Verdacht zu haben, die eigenen
       Werke in den Vordergrund gespielt zu haben. Er hatte den Transport der
       Aufnahmen aus der DDR nach Westberlin organisiert.
       
       Die erste Band, die Hegemann und Walterbach in Ostberlin getroffen hatten,
       hieß Rosa Extra. Ihr Szene-Hit hatte den sprechenden Titel „Ich fühle mich
       in Grenzen wohl“. Der Text stammte von Stefan Döring. Rosa Extra konnten es
       mit jeder westdeutschen New-Wave-Band aufnehmen. Wenn sie eine Platte
       veröffentlicht hätten, dann wäre sie wohl ein [7][Fall für John Peel]
       gewesen. Kurz nachdem die Band, die damals bereits zum Duo geschrumpft war,
       ihr Material für Walterbach aufgenommen hatte, stand bei ihnen die Stasi
       vor der Tür und drohte mit Haftstrafen.
       
       ## Erstmal kein Interesse an DDR-Punk
       
       Das Cover von „eNDe“ gestaltete derweil Ralf Kerbach, der die DDR bereits
       verlassen hatte. Ich habe mein Exemplar von „eNDe“ Mitte der Achtziger in
       Westdeutschland aus einer Wühlkiste gezogen, sie kostete fünf Mark. Niemand
       interessierte sich nach Abflauen der Neuen Deutschen Welle mehr für solche
       Musik, schon gar nicht aus dem Osten. Heute bezahlt man auf der
       Internettauschbörse Discogs dafür knapp 400 Euro.
       
       Wolfgang Grossmann hat vor drei Jahren einige Musikerkollegen aus dem
       DDR-Untergrund versammelt und Fehlfarben-Sänger Peter Hein dazugebeten. Der
       Schlagzeuger von Zwitschermaschine heißt die Band, die das alte Material
       rekonstruiert. Gesungen werden vor allem Lieder von Michael Rom. Es ist ein
       melancholisches und cooles Album, das erahnen lässt, wie es gewesen sein
       könnte, und doch in der Gegenwart situiert ist. Wenig später erschien das
       fragmentarisch überlieferte Werk von Rosa Extra auf Vinyl und Tape.
       Schleim-Keim wiederum spielen heute gut besuchte Konzerte, bei denen alle
       mitsingen. Dieser Tage läuft eine Doku über sie in den Kinos. Die Punks aus
       dem Osten haben uns noch immer was zu sagen.
       
       24 May 2024
       
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