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       # taz.de -- Theaterstück „Die gläserne Stadt“: Hanseaten auf Kollisionskurs
       
       > Das Hamburger Schauspielhaus widmet sich in dem Stück „Die gläserne
       > Stadt“ dem Cum-Ex-Steuerskandal. Herausgekommen ist ein unterhaltsames
       > Spektakel.
       
   IMG Bild: Famos bediente Komödienmechanik: Christoph Jöde, Ute Hannig und Lina Beckmann im Stück „Die gläserne Stadt“
       
       Es war mit vielen Milliarden Euro der wohl größte Diebstahl von Steuern im
       Nachkriegsdeutschland. 2021 erklärte der Bundesgerichtshof die
       [1][„Cum-Ex“-Geschäfte] für strafbar. Wie sie funktionierten, ist
       inzwischen gut aufgearbeitet, auch die Täter aus dem Milieu der Hamburger
       Privatbank M.M. Warburg sind bestens bekannt – nicht zuletzt dank Helge
       Schmidts theatraler „Recherche zum entfesselten Finanzwesen“ am kleinen
       Hamburger Lichthof-Theater 2018, Titel: [2][„Cum-Ex Papers“].
       
       Ob Olaf Scholz in seiner Zeit als Hamburgs Erster Bürgermeister daran
       beteiligt war, Schadensbegleichungen zu verhindern, darüber wird weiterhin
       gestritten – der SPD-Politiker, heute bekanntlich Kanzler, kann sich auf
       Nachfragen an nichts erinnern. Die ersten Verantwortlichen sind allerdings
       bereits verurteilt worden, weitere Verfahren laufen.
       
       Inhaltlich scheint das Thema durchdekliniert. Und auf der großen Bühne geht
       es wohl nur noch als Satyrspiel. Felicia Zeller erhielt den Auftrag dazu,
       vielleicht weil sie sich mit [3][„Der Fiskus“] – Uraufführung 2020 am
       Staatstheater Braunschweig – beeindruckend komödiantisch der
       Steuerkriminalität angenähert hatte: Für das Deutsche Schauspielhaus
       überschrieb sie nun Nikolai Gogols Gesellschafts- und Verwechslungskomödie
       „Der Revisor“ (1835). Aus der korrupten Gesellschaft Russlands werden also
       polit-ökonomische Kabale im heutigen Hamburg. Einige Figuren und die grobe
       Handlungsstruktur der Vorlage bleiben dabei zu erkennen – und umso weniger
       vom Text.
       
       Herrlich vermittelt aber Zellers frisch rhythmisierte Sprache mit den nicht
       zu Ende geführten Sätzen, wie die Floskelei ins Leere läuft. Sehr hübsch
       passt das für Olaf-Scholz-mit-Augenklappe (Samuel Weiss); andere sagen mit
       minimalem Wortaufwand maximal wenig oder heben zu Ausreden an, in Lügen
       sich verheddernd. Es fehlt auch nicht an üblichen Drohungen: Würden die
       Bosse belangt, hätte das schlimme Folgen für Arbeitsplätze und
       Wirtschaftskraft!
       
       Das Ensemble kreiert eine Ansammlung von Pfeffersack-Karikaturen, mal mit
       weiß besockten Füßen und noch weißerem Gebiss sonnenbankbraun debil
       dauergrienend, mal mit Zigarre oder Pfeife als Spott-Kapitalist. Hinzu
       gesellt sich ein windig eitler Jurist oder eine devote Ärztin, deren Klinik
       am Tropf der Börsengeschäfte hängt. Nicht fehlen darf auch der Hochstapler,
       der als neues Wahrzeichen den „Nasenturm“ bauen will.
       
       Im Programmheft sind die Rollen-Vorbild-Klarnamen bewusst ungeschickt
       unkenntlich gemacht, also gut lesbar. Virtuos parodistisch widmet sich Lina
       Beckmann als „Dr. Bernd Baktus“ dem Bankier Christian Olearius – der
       Warburg-Miteigentümer [4][steht in Bonn vor Gericht] wegen Hinterziehung in
       Höhe von knapp 280 Millionen Steuer-Euro –, prototypisiert zu einem
       dickhodigen Kaufmann im hanseatischen Gewand.
       
       Auf ganz andere Art überzeugt Carlo Ljubek als Chlestakow: Wie bei Gogol
       für einen Revisor gehalten, respektive nun für einen Steuerprüfer, ist er
       eigentlich ein obdachloser Migrant, im Schiffsbauch hausend, wohin sich
       auch der Hamburger Geldadel zurückgezogen hat. In der Hoffnung, er wäre wie
       sie, also bestechlich, lassen die Anwesenden reichlich Geldscheine flattern
       und verteilen Geschenke. Chlestakow nimmt, was er kriegen kann und führt
       die selbstverliebten Snobs wie ein Dompteur durch die Bühnenmanege.
       
       Noch nie wurde wohl eine sprachlich so feine Satire Zellers so pompös
       hergerichtet wie jetzt von Regisseur Victor Bodo: Seine Ausstattungs- und
       Effekte-Opulenz hat fast Musicalausmaße, entsprechend wird auch solistisch
       gesungen und getanzt; „De Hamborger Veermaster“ dann singt das Publikum
       mit. Beeindruckend auch die für Bodo typischen surrealen Szenen. Und das
       Publikum amüsiert sich köstlich über die mit großer Theaterliebe
       verhohnepiepelte Geldaristokratie, die so hinterhältig wie kaltblütig auf
       ihren Vorteil bedacht ist. Den Zusehenden indes verkünden Zeller wie Gogol:
       „Ihr lacht doch über euch selbst!“
       
       ## Slapstick-Einlagen und Sprachspielkalauern
       
       „Die gläserne Stadt“ bedient die Komödienmechanik famos, von der
       Figurenzeichnung über Slapstick-Einlagen und Sprachspielkalauern bis hin
       zur klamaukigen Ekstase. Kokain wird zu einer armdicken Line auf den Boden
       gekippt, sodass alle ihre Nase darin baden und sich zusätzlich hemmungslos
       besaufen, während der Bürgermeister und die Steuerbehörden-Chefin ihr
       zukünftiges Vorgehen ausfechten, und das Schiff Kollisionskurs auf die
       Elphi nimmt.
       
       Es ist ein die Albernheit nicht scheuendes Spektakel am Rande der Farce.
       Die Spaß-Offensive macht es sich zwar einfach, liefert keine neuen
       Erkenntnisse, bietet aber eine sehr unterhaltsame Abrechnung mit der
       Kungelei. Über all das mal herzhaft empört lachen zu können, ermöglicht
       befreiendes Durchatmen – ohne die Betrügereien am Gemeinwohl irgendwie
       abzumildern.
       
       4 Jun 2024
       
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