# taz.de -- Die Wahrheit: Spiegel des Grauens
> Eine wundersame Erscheinung erschüttert einen vollkommen ergriffenen
> Nasszellennutzer. Es ist das schreckliche Abbild einer menschlichen
> Silhouette.
Am Abend erblickte ich bei eingeschalteter Badezimmer-Deckenleuchte etwas
höchst Ungewöhnliches. Einige über der Armlehne eines Korbsessels hängende
Handtücher und Kleidungsstücke warfen am Boden einen Schatten, der die
perfekte Form einer menschlichen Silhouette hatte. Mir war unbegreiflich,
wie auf diese Weise ein so wohlgeformtes Profil entstehen konnte. Es wirkte
für mein Empfinden sowohl geschlechts- als auch alterslos und entzog sich
einer genaueren ethnischen Zuordnung.
Nach längerem bewegungslosen Anstarren der wundersamen Erscheinung glaubte
ich, eventuell eher weibliche denn männliche Gesichtszüge zu erkennen.
Etwas irgendwie „Archaisches“ und möglicherweise „Kriegerisches“ schienen
sie zu besitzen, das mich ebenso an alte Kulturen des Mittelmeerraums –
oder des Vorderen Orients? – denken ließ wie an amerikanische Ureinwohner.
Typisch nordeuropäische und afrikanische Merkmale meinte ich nicht zu
erkennen.
Für mich schien das scherenschnittartige Porträt etwas von einem
unheimlichen Sonett zu haben. „Wenn ich das doch bloß jemandem zeigen
könnte“, dachte ich. Obwohl mir klar war, dass es keinerlei Beweiskraft
haben würde, verspürte ich den Wunsch, diese sehr ungewöhnliche
Angelegenheit irgendwie zu dokumentieren – wenigstens für mich selbst. Nur
wie?
Einfach einen Papierbogen auf den Schatten zu legen und dessen Umrisse mit
einem Bleistift nachzuziehen war leider ungeeignet, weil der perfekte
Eindruck des Profils nur unter einem bestimmten Blickwinkel entstand. Ein
Foto aus ebendieser Perspektive wäre das Mittel der Wahl gewesen, doch ich
besaß keine Kamera. Den Schatten aus besagtem Blickwinkel wirklich präzise
abzuzeichnen, traute ich mir keinesfalls zu.
Plötzlich erhob sich der Schatten, der nun einen ganzen Körper hatte, glitt
über die Wand zum Waschbecken und verschwand in dem darüber hängenden
Spiegel. Handtücher und Kleidungsstücke hingen über der Sessellehne, als
wäre nichts geschehen, und verursachten jetzt eine amorphe dunkle Fläche
auf dem Fußboden.
Wie betäubt ging ich zum Waschbecken und schaute, nicht ohne Furcht, den
Spiegel an. Ich sah zu meiner Erleichterung nichts Schreckliches darin,
doch die Glasscheibe war von einem feinen Netz aus Rissen durchzogen.
Offenbar brauchte ich einen neuen Spiegel. Unfähig, mir das soeben Erlebte
zu erklären, ging ich ins Wohnzimmer und schenkte mir ein großes Glas
Cognac ein. Irgendwann schlief ich auf dem Sofa ein.
Am nächsten Morgen schien der Spiegel wieder vollkommen intakt zu sein.
Sämtliche Risse im Glas waren verschwunden. Als ich mein seitenverkehrtes
Abbild betrachten wollte, gewahrte ich statt der rechten Gesichtshälfte
überraschenderweise eine anatomisch gut passende Parklandschaft.
28 May 2024
## AUTOREN
DIR Eugen Egner
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