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       # taz.de -- Ende vom Messenger ICQ: Ah oh, ah oh, ah oh
       
       > ICQ war einer der ersten Instant-Messaging-Dienste des Internets und
       > Verband in den 2000ern Millionen Menschen. Jetzt geht er offline. Ein
       > Nachruf.
       
   IMG Bild: Das berümte Blumen-Logo von ICQ
       
       Schnell die Kopfhörer in die Buchse stecken, damit es im Wohnzimmer niemand
       hört: Die Nachrichten kommen im Sekundentakt an. Das „Ah oh“-Geräusch zu
       unterdrücken, das so viel [1][Glück durch Kommunikation] verspricht, war
       eine der wichtigsten Aufgaben vieler Teenager in den Abendstunden der
       2000er Jahre, wenn eigentlich Vokabellernen angesagt war. ICQ war einer der
       ersten [2][Instant-Messenger-Dienste] und lieferte den zu verheimlichenden
       Dopaminkick der sozialen Onlinewelt. Nicht nur, weil man sonst ermahnt
       wurde, endlich seine Hausaufgaben zu erledigen, sondern vor allem wegen der
       elenden elterlichen Frage: „Mit wem schreibst du da eigentlich?“
       
       Mit Mitschüler*innen, [3][der heimlichen Liebe], mit Menschen aus digitalen
       Jugendclubs … Zu seinen Hoch-Zeiten 2009 waren bei ICQ 470 Millionen
       Nummern registriert, der Dienst verband Menschen und Welten. Dann
       verschwand er von vielen Endgeräten. Zum 26. Juni wird ICQ nun komplett
       eingestellt. Zum Glück.
       
       1996 entwickelte ein israelisches Start-up von vier gelangweilten
       Studierenden ICQ. Nach nur zwei Jahren kaufte AOL (die mit den
       Internet-CDs) das Start-up auch schon für mehr als 400 Millionen US-Dollar
       auf. Denn ICQ war ein Zauber: Es bot die gleichen Möglichkeiten wie
       Chatrooms – nur eben als Programm. Man musste keine URL mehr eintippen,
       nach den aktuell besten Websites suchen, unglücklich durch Räume crashen.
       Man meldete sich einfach an und konnte über eine Nummer, die Telefonnummern
       glich, gezielt den Menschen schreiben, die man erreichen wollte, also die,
       die man eh eben erst in der Schule gesehen hatte. ICQ steht für „I seek
       you“, also „ich suche dich“. Dabei machte es die Suche unnötig.
       
       ## Spaß am Chatten
       
       ICQ war der Ausweg für alle, die sich beim Telefonieren immer vertippten,
       Angst davor hatten, dass nicht die Freundin, sondern deren Vater abnimmt,
       die vor Aufregung stotterten. Vielleicht ist ICQ der Grund, warum so viele
       heute nicht mehr gerne telefonieren, denn es hat uns gezeigt: Musst du gar
       nicht! Du kannst auch einfach chatten. Macht eh mehr Spaß und geht sogar in
       der Nacht. Wenn die erste große Liebe ein halbes Jahr auf Schüleraustausch
       in den USA ist, stellt man sich einfach den Wecker auf 3 Uhr nachts, um
       Nachrichten auszutauschen. Und wenn alles zu überfordernd wird, kann man
       auch einfach einen Youtube-Link zu einer pathetischen Hardcore-Schnulze
       verschicken.
       
       Irgendwann hatte selbst das schäbigste Internetcafé hinterm Hauptbahnhof
       ICQ auf den Rechnern. Das war häufiger mal nötig, wenn man sich beim
       Datentausch via ICQ irgendwelche Viren eingefangen hatte. Denn der Dienst
       war auch: Malware, Phishing, Mobbing. Aber er hatte eben auch animierte
       Emoticons, die lärmend den Screen blockierten. Der „I can’t hear you“-Typ
       etwa, der über zehn Sekunden lang die Finger in seine übergroßen Ohren
       stopft und singt. Eine wundervoll ironisches Schuldeingeständnis, wenn man
       einsieht, dass man berechtigterweise kritisiert wird, aber noch nicht das
       Format hat zu sagen: „Stimmt, das war scheiße von mir.“
       
       Wir Jugendliche trauten uns weiter begierig an neue Technologien heran. ICQ
       bliebt stehen. Es war nicht bereit sich der Zukunft zuzuwenden. Erst 2009,
       zwei Jahre nachdem das erste iPhone erschienen war, gab es eine ICQ-App. Im
       gleichen Jahr wurde Whatsapp gegründet, und das arbeitete mit echten
       Telefonnummern, es war viel einfacher.
       
       ## Russisches Unternehmen
       
       Gleichzeitig verlor ICQ auf dem Desktop gegen Facebook und Co; die
       ermöglichten nicht nur das Chatten, sondern eine digitale Pinnwand für
       Fotos, Meinungen, Bewertungen. 2010 verkaufte AOL ICQ an ein russisches
       Unternehmen, das später als Mail.ru-Group bekannt wurde und zu dem der
       propagandatriefende Facebook-Klon VKontakte gehört. Die
       Nutzer*innenzahlen lagen da nur noch bei 42 Millionen. ICQ ging den
       Bach runter und selbst ein verzweifelter Relaunch konnte nicht helfen.
       
       Der Dienst hat seine Daten nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt, liegt in
       russischen Händen. Dort werden Menschen für ihre Inhalte auf VKontakte
       schon mal in den Knast gesteckt. ICQ, du mit dem niedlichen Emojis und der
       Jugendliebe, du, das den Absprung in die Zukunft und die freie Komunikation
       nicht geschafft hat. Es ist gut, dass du nun stirbst.
       
       27 May 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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