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       # taz.de -- Südafrika wählt: Vergesst den ANC nicht!
       
       > Südafrikas junge Generation wendet sich von der alten Befreiungsbewegung
       > ab – aber mit welchem Ergebnis? Eindrücke vor einer Schicksalswahl.
       
   IMG Bild: Voll aufdrehen aus dem Sinkflug: ANC-Abschlussveranstaltung in Johannesburg, Samstag
       
       Johannesburg taz | „Wir haben alles. Wir haben Wasser, Häuser, Strom“,
       listet Lebo Matlaila auf. Seine Freundin unterbricht ihn: „Was erzählst du
       da? Wir haben keinen Strom“, sagt sie. Der Einwand wird ignoriert. „Das ist
       der beste Tag aller Zeiten!“, schreit der 36-jährige Matlaila euphorisch.
       Komplett in Gelb-Grün gekleidet, ist er einer von Tausenden bei der
       Abschlussveranstaltung der südafrikanischen Regierungspartei [1][ANC
       (African National Congress)] im FNB-Stadion in Johannesburg. Es ist mit
       knapp 95.000 Plätzen das größte Stadion Afrikas.
       
       Knapp drei Viertel der Plätze sind belegt. Es ist ein wahres Meer aus
       gelben und grünen Farben. Der ANC hat sämtliche Register gezogen. Bässe
       wummern, Musiker heizen der Menge ein. Südafrikas Wahlveranstaltungen haben
       sich parteiübergreifend zu großen Partys entwickelt – und einer
       Demonstration von Stärke.
       
       Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass dies die am härtesten umkämpfte
       Wahl in Südafrikas Geschichte sein wird. Zum ersten Mal könnte der seit
       1994 regierende ANC seine absolute Mehrheit verlieren. Zum ersten Mal
       könnte das Land am Kap künftig von einer Koalitionsregierung gelenkt
       werden.
       
       Insbesondere bei der Generation der „Born Free“, die nach 1994 geboren
       wurden, überwiegt der Frust, sagt Busisiwe Thabisa Sibizo. Die 26-Jährige
       promoviert an der Universität von Johannesburg in Politikwissenschaften.
       Viele junge Wählerinnen und Wähler fühlen sich von den Parteiprogrammen
       nicht abgeholt, sagt sie. Als Reaktion flüchten sich viele in die
       Wahlenthaltung. Zwar gibt es neue Parteien, doch die meisten sind
       Abspaltungen des ANC oder der größten Oppositionspartei [2][DA (Democratic
       Alliance)].
       
       ## ANC in Gelb, DA in Blau
       
       Gegen den ANC wirkt die Abschlussrally der DA fast schon bescheiden. Auch
       sie hat schwer in Werbematerial investiert: blaue Schirme gegen die Sonne,
       blaue T-Shirts und blaue Hüte, dazwischen Poster mit dem Gesicht von
       Parteichef John Steenhuisen – ein weißer Spitzenkandidat in einem Land,
       dessen Mehrheitsbevölkerung schwarz ist. Obwohl die Unzufriedenheit mit dem
       ANC enorm hoch ist, und obwohl die DA dafür bekannt ist, in der von ihr
       regierten Westkap-Provinz einen guten Job zu machen, liegen die
       Umfragewerte der Partei bei gerade mal 20 Prozent. Die DA, so heißt es, hat
       es nicht geschafft, die Massen abzuholen.
       
       Südafrikas Wahlkampf dreht sich um die ganz grundlegenden Dinge: Jobs, die
       Eindämmung der Kriminalität, Zugang zu Strom und Wasser. Mit einer
       Arbeitslosigkeit von rund 41 Prozent, noch höher unter der Jugend, kämpft
       knapp die Hälfte der Bevölkerung täglich darum, über die Runden zu kommen.
       
       Viele Wähler*innen würden sich dennoch wie die Fans eines angeschlagenen
       Fußballvereins verhalten, sagt der Politikwissenschaftler William Gumede,
       Vorsitzender der Stiftung [3][Democracy Works]. „Eine Menge Leute sind
       extrem enttäuscht vom ANC“, sagt er. „Dennoch wird er entweder weiterhin
       unterstützt in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder besser wird, oder es
       wird gar nicht gewählt. Ein anderer Verein, beziehungsweise eine andere
       Partei, kommt für viele nicht in Frage.“ Zu groß sei die emotionale
       Identifikation mit der alten Befreiungsbewegung.
       
       Entsprechend pompös wirkt am Samstag die ANC-Abschlussveranstaltung.
       Hunderte Statisten marschieren ins Stadion und führen traditionelle Tänze
       verschiedener Volksgruppen auf. Veteranen des Befreiungskampfes bekommen
       einen Auftritt: In Flecktarn gekleidet tanzen Mitglieder des ehemaligen
       bewaffneten Flügels des ANC durch das Stadion – die Menge tobt. Auch die
       palästinensische Flagge ist in der Prozession zu sehen. Der Moderator ruft
       „Freiheit für Palästina“ ins Mikrofon. In Südafrika werden viele
       Parallelen zwischen dem eigenen Kampf gegen das Apartheidregime und der
       Situation der Palästinenser unter israelischer Besatzung gesehen.
       
       Auch 30 Jahre nach dem Ende des rassistischen Regimes nehmen die
       Freiheitskämpfer der Vergangenheit einen großen Raum in Südafrikas
       politischer Kultur ein. Wahlwerbung mit dem Konterfei toter Helden hängt an
       fast jeder Straßenlaterne. Dass der Geist der Vergangenheit immer noch
       präsent ist, zeigt sich auch im Stadion: „Der ANC ist die einzige Partei,
       die uns befreit hat“, sagt Brenda Phunkuntski. Die 58-Jährige stimmt zwar
       zu, dass es wirtschaftlich im Land nicht gut läuft. Schuld daran sei jedoch
       Jacob Zuma und nicht der ANC, erklärt sie.
       
       Unter der Präsidentschaft von Jacob Zuma von 2009 bis 2018 waren Korruption
       und Vetternwirtschaft ausgeufert. Zuma wurde schließlich wegen massiver
       Korruptionsvorwürfe abgesetzt und 2021 zu 15 Monaten Haft verurteilt, da er
       vor Gericht nicht ausgesagt hatte. Seine Verurteilung löste Massenproteste
       aus, Zuma-Anhänger zogen plündernd durch die Straßen, mehrere Hundert
       Menschen starben.
       
       Auch bei diesen Wahlen sorgt der polarisierende 82-Jährige für Unruhe.
       Zumas neugegründete Partei [4][uMkhonto weSizwe (MK)] erhält von
       frustrierten ANC-Wähler*innen Zulauf. Sie beschuldigen den ANC, Zuma in
       Ketten gelegt zu haben. Auch dem besten Anführer seien die Hände gebunden,
       wenn das System faul sei, erklärt es einer seiner Anhänger auf einer
       MK-Wahlveranstaltung.
       
       Zwar hat Südafrikas Verfassungsgericht Zuma in letzter Minute aufgrund
       seiner Vorstrafe als Parlamentskandidat gesperrt, doch der Politiker gibt
       weiterhin den Ton an – und inszeniert sich als Opfer. Den Ausschluss von
       den Wahlen, aber auch einen Rechtsstreit um das Parteilogo und den Namen
       MK, beide vom ehemaligen bewaffneten Flügel des ANC übernommen, bezeichnet
       Zuma als Verschwörung gegen ihn.
       
       ## Gewalt ist nicht auszuschließen
       
       Sollte der ANC wider Erwarten die absolute Mehrheit behalten, befürchtet
       Analyst William Gumede eine Eskalation. Im Vorfeld der Wahlen haben
       populistische Parteien wie MK, aber auch die linkspopulistische [5][EFF
       (Economic Freedom Fighters)] unter dem ehemaligen ANC-Jugendführer Julius
       Malema, wiederholt die Wahlkommission angegriffen und der Manipulation
       bezichtigt.
       
       „Die Wahlen sind spannend, da es zum ersten Mal so aussieht, als ob es
       Neuerungen geben könnte“, sagt Gumede mit Blick auf eine mögliche
       Koalitionsregierung. Sollte dies nicht eintreten, könnten Vorwürfe der
       Wahlmanipulation laut werden. Gewaltausbrüche seien in dem polarisierten
       Klima nicht auszuschließen. Vor allem die EFF, deren Anführer Malema
       bereits zwei Mal wegen Hassreden verurteilt wurde, treibt mit radikalen
       Forderungen wie der Landenteignung von Weißen einen Keil in den dünnen
       Kitt, der Südafrika zusammenhält.
       
       Vielleicht auch deswegen mahnte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa in
       einer Rede an die Nation am Sonntagabend, Handlungen zu unterlassen, die
       den Wahlen schaden könnten. Im Vorfeld hatte sich der 71-Jährige
       unbekümmert über einen möglichen Mehrheitsverlust des ANC gegeben. Am
       Sonntagabend aber mahnte er: „Vergesst nicht, was der ANC für euch getan
       hat.“
       
       Die Zustimmungswerte für den ANC sind rückläufig. Bei den letzten Wahlen
       2019 gewann er mit rund 57,5 Prozent der Stimmen. Von rund 35,86 Millionen
       Wahlberechtigten ließen sich damals jedoch nur 26,75 Millionen in die
       Wählerlisten eintragen, davon wiederum gingen 9,1 Millionen nicht zur Wahl
       – die niedrigste Wahlbeteiligung seit dem Ende der Apartheid. Am Ende
       siegte der ANC mit bloß gut 10 Millionen Stimmen.
       
       Diesmal haben sich laut Wahlkommission nur gut 27,5 Millionen Menschen für
       die Wahlen am 29. Mai registrieren lassen. Fraglich ist, wie viele am Tag
       selbst tatsächlich den Gang zur Urne antreten.
       
       ## Immense Kluft zwischen Arm und Reich
       
       Im Township Alexandra, nur wenige Kilometer von der ANC-Megaveranstaltung
       entfernt, türmen sich Müllberge am Straßenrand. Das Armenviertel grenzt
       direkt an das noble Luxusviertel Sandton an, wo einige der teuersten
       Immobilien Afrikas zu finden sind. Südafrika gilt als Land mit der größten
       sozialen Ungleichheit der Welt. Während die politische Ausgrenzung der
       schwarzen Bevölkerungsmehrheit seit 1994 beendet ist, bleiben
       wirtschaftliche und soziale Barrieren hoch.
       
       Boitshoko Mpholele ist 17 Jahre alt und in Alexandra aufgewachsen. Er
       berichtet vom staatlichen Versagen in seinem Viertel: Stromausfälle,
       fehlende Wasserversorgung, Müllberge. „Wir leben in Alexandra dicht an
       dicht gedrängt. Wenn zwei Wochen lang der Müll nicht abgeholt wird, stinkt
       es und die Ratten kommen.“ Das Viertel ist zudem für seine massive
       Kriminalität berüchtigt.
       
       Der junge Südafrikaner ist IT-Student an der Universität von Pretoria. Er
       arbeitet hart, um irgendwann nicht mehr in Alexandra leben zu müssen. Die
       morgendliche Dusche plant er nach dem Blick auf die App, die anzeigt, wann
       wieder der Strom ausfällt.
       
       Südafrika ist geplagt vom „Load Shedding“. Gemeint ist damit die gezielte
       Abschaltung der Stromversorgung, damit die Kraftwerke nicht überlasten. Die
       marode Infrastruktur kann den Energiebedarf des Landes nicht decken. Kurz
       vor der Wahl hat sich die Stromversorgung zwar stabilisiert, doch das wird
       gemeinhin als Versuch des ANC gesehen, in letzter Minute ein paar
       Wählerstimmen abzugreifen.
       
       Mpholele ist frustriert. Während viele seiner Freunde aus Alexandra keinen
       Sinn darin sehen, zur Wahl zu gehen, verpasst er die Wahl um einen Monat.
       Er wird erst im Juni 18 – und ist deshalb am 29. Mai nicht stimmberechtigt.
       Doch auch ohne ihn sieht es danach aus, als ob die Ära der
       ANC-Alleinherrschaft ein Ende nimmt.
       
       28 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.anc1912.org.za/
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       ## AUTOREN
       
   DIR Helena Kreiensiek
       
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