# taz.de -- HDP-Politiker in der Türkei verurteilt: 42 Jahre Haft für Demirtaş
> Ein türkisches Gericht verurteilt linke prokurdische PolitikerInnen zu
> extremen Haftstrafen.Demirtaş und Yüksekdağ führten lange die HDP.
IMG Bild: Unterstützer von Selahattin Demirtaş mit einem Bild von ihm bei einer Kundgebung in Istanbul am 4. Mai 2018
Istanbul taz | In einem über mehrere Jahre andauernden politischen Prozess
gegen die früheren Führungspersonen der kurdisch-linken Partei HDP sind am
Donnerstagabend die beiden damaligen Co-ParteiführerInnen Selahattin
Demirtaş und Figen Yüksekdağ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.
Einer der wichtigsten kurdischen Politiker der letzten Jahrzehnte, der
54-jährige Selahattin Demirtaş, soll für 42 Jahre und 6 Monate im Gefängnis
verschwinden. Seine damalige Co-Parteiführerin Figen Yüksekdağ erhielt 30
Jahre und 3 Monate Haft.
Der Prozess bezog sich auf Ereignisse, die zehn Jahre zurückliegen. Damals
beherrschte die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) weite Teile
Syriens und belagerte in Nordsyrien mit Kobani dort eine der größten
kurdischen Städte.
Kobani liegt direkt an der Grenze zur Türkei. Von dort aus konnte man mit
bloßen Augen sehen, wie der IS versuchte, in die Stadt einzudringen.
Verteidigt wurde Kobani von einer kurdischen Miliz, die nach Auffassung der
türkischen Regierung von der türkisch-skurdischen Guerilla PKK abstammt,
die die türkische Armee seit Jahrzehnten bekämpft.
Während die Kurden in der Türkei ihren Verwandten in Kobani zur Hilfe
kommen wollten, ließ Präsident Recep Tayyip Erdoğan Panzer an der Grenze
auffahren, aber nicht um die Kurden in ihrem Abwehrkampf gegen die IS zu
unterstützen, sondern um zu verhindern, dass die kobanischen Kurden Waffen
und Lebensmittel von ihren Verbündeten aus der Türkei bekamen.
## HDP-Führung als Sündenböcke Erdoğans
Stattdessen, so die Vermutung der meisten Kurden, unterstützte Erdoğan die
Islamisten vom IS, eben um zu verhindern, dass die PKK in Kobani einen
großen Sieg erringen konnte. Gegen diese Politik der türkischen Regierung
gab es massenhafte Proteste in verschiedenen, überwiegend kurdisch
bewohnten Städten in der Grenzregion zu Syrien und dem Irak.
Das Zentrum der Proteste war die Millionenstadt Diyarbakır, Hauptstützpunkt
der kurdischen Opposition. Bei diesen Protesten kam es nach offiziellen
Angaben zu 37 Toten. Öffentlich machte Erdoğan dafür Selahattin Demirtaş
und die ganze HDP-Führung verantwortlich. Demirtaş und Yüksekdağ waren
beide Abgeordnete im Parlament. Es dauerte, bis die Anklage
zusammengezimmert war und anschließend das Parlament über die Aufhebung der
Immunität von Demirtaş, Yüksekdağ und anderen kurdischen Abgeordneten
abgestimmt hatte.
Unterdessen fand im Sommer 2016 der Putschversuch gegen Erdoğan statt, mit
dem die Kurden zwar nichts zu tun hatten, sie aber dennoch während des
anschließenden Ausnahmezustandes verhaftet wurden. Seit dem Herbst 2016
saßen deshalb Demirtaş, Yügsekdağ und andere kurdische PolitikerInnen in
Untersuchungshaft.
Der charismatische HDP-Führer Demirtaş, der Erdoğan bei Wahlen mehrmals mit
einigem Erfolg herausgefordert hatte, war der Hauptangeklagte in dem
[1][sogenannten Kobani-Prozess]. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn anfangs
in mehr als 40 Punkten an und forderte insgesamt mehr als 100 Jahre Haft
für ihn.
## Europäischer Menschenrechtsgerichtshof wird ignoriert
Weil die U-Haft für Demirtaş sich über Jahre hinzog, klagten seine Anwälte
vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, der die Freilassung von
Demirtaş forderte. Erdoğan ignorierte das. Noch im
Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 2023 sagte Erdoğan, solange er an der
Regierung sei, werde Demirtaş nicht aus dem Gefängnis kommen.
Nun wurde Demirtaş zu 42 Jahren und 6 Monate Haft verurteilt. Die damalige
Co-Parteichefin Figen Yüksekdağ zu 30 Jahren und 3 Monaten. Von den
insgesamt 108 Angeklagten wurden 12 freigesprochen und 24 Personen zu
Freiheitsstrafen zwischen 9 und 42 Jahren verurteilt. 72 der Angeklagten
sind auf der Flucht, die meisten wohl im Ausland.
Die Partei HDP hat sich wegen eines drohenden Verbotsverfahrens
mittlerweile in DEM umbenannt und als kurdische Partei bei den
Kommunalwahlen am 31. März dieses Jahres relativ erfolgreich teilgenommen.
Nach der Verhaftung von Demirtaş ging der Erfolg der HDP allerdings stark
zurück.
Demirtaş wollte seine Partei aus der Ethno-Ecke herausführen und zu einer
gesamttürkischen linken Partei machen. Viele nichtkurdische türkische Linke
unterstützten ihn deshalb. Ohne Demirtaş brach diese Politik aber mehr oder
weniger zusammen.
## Kurswechsel von Demirtaş' Nachfolgern
Zuerst die HDP und jetzt die DEM verstehen sich wieder als rein kurdische
Partei. Bei den Kommunalwahlen Ende März hat die DEM deshalb in den
Metropolen in der Westtürkei nur noch wenige Stimmen geholt und sich
stattdessen ganz auf die Städte und Gemeinden im kurdisch besiedelten
Südosten des Landes konzentriert.
Die aktuelle Parteiführung der DEM sagte am Donnerstagabend, man werde das
„faschistische“ Urteil nicht akzeptieren. Die Verteidigung kündigte an,
gegen die Urteile in Berufung zu gehen. Viele Menschen in der Türkei,
Kurden wie Türken, hoffen nach wie vor auf eine Rückkehr von Demirtaş in
die Politik.
17 May 2024
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## AUTOREN
DIR Jürgen Gottschlich
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