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       # taz.de -- Berliner Fußball-Clubs in der NS-Zeit: Mitläufer und Mittelstürmer
       
       > Der Berliner Fußball-Verband lässt seine Rolle während der Nazizeit
       > wissenschaftlich aufarbeiten. An der TU wurden nun erste Ergebnisse
       > vorgestellt.
       
   IMG Bild: Braune Kicker: Die deutsche Fußballnationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin
       
       Berlin taz | Von der Gefahr, einfach ein „Häkchen“ zu setzen, spricht
       Derviş Hizarcı. Er ist Pädagoge, er ist Muslim, er ist
       Antisemitismusexperte, und am Donnerstag war er in der Technischen
       Universität zu Gast bei einer Fachtagung des Berliner Fußball-Verbands
       (BFV).
       
       Die Häkchengefahr sieht demnach so aus: Einerseits, so der [1][Leiter der
       Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIgA], gebe es Fälle, wo
       kickende Kinder plötzlich den sogenannten Hitlergruß zeigen. Einfach, weil
       ein Mann am Rand des Platzes ihnen das beigebracht habe. Auch könne er
       berichten von mit voller Überzeugung vorgetragenen Meinungen von elf- und
       zwölfjährigen D-Jugend-Spielern, schwarze Fußballer seien doch von Natur
       aus besser, weswegen es unfair sei, sie mitspielen zu lassen.
       
       Andererseits, sagte Hizarcı, glaubten viele Funktionäre, mit dem Aufstellen
       von Erinnerungstafeln, dem Verfassen kritischer Kapitel in Gedenkschriften
       oder der Vergabe von Studien zur Aufarbeitung der Verbandsgeschichte hätten
       sie ja ihre Hausaufgaben getan. Häkchen dahinter.
       
       Der BFV hat eine Studie über seine Rolle im NS-Regime in Auftrag gegeben.
       Er ist damit der erste Landesverband im deutschen Fußball, der sich des
       Themas angenommen hat, wie Christian Gaebler stolz berichtete. Der
       SPD-Politiker war nicht als Bausenator zu der Veranstaltung gekommen,
       sondern in seiner Funktion als Vizepräsident Kommunikation des BFV.
       
       ## „Selbstgleichschaltung“ der Vereine
       
       Vorgestellt wurden an der TU vor allem Berichte von ersten Archivfunden.
       Der Sporthistoriker Lorenz Peiffer etwa berichtete davon, wie die
       Ausgrenzung jüdischer Sportlerinnen und Sportler vonstatten ging. Kurz nach
       der Machtübergabe an die Nazis – und lange, bevor das NS-Regime eine
       entsprechende Anweisung erteilte – warfen die Sportvereine nämlich aus
       freiem Willen ihre jüdischen Mitglieder hinaus, laut Peiffer etwa 50.000
       bis 60.000 allein in Berlin, allein im Jahr 1933. Der [2][emeritierte
       Professor der Universität Hannover] spricht von „Selbstgleichschaltung“.
       
       Bereits im Juli 1933 löste sich der Verband Brandenburgischer
       Ballspielvereine (VBB), der Vorläufer des BVV, selbst auf. Wie Peiffers
       Kollege Berno Bahro von der Universität Potsdam zeigte, dauerte die
       historische Sitzung nur 20 Minuten. Die versammelten Fußballfunktionäre
       waren sich einig, dass es den Verband, den sie über Jahrzehnte aufgebaut
       hatten, nicht mehr brauchte. Der VBB wurde in den Gau III
       Berlin-Brandenburg überführt, der eine entsprechende Gauliga durchführte.
       
       Wie einig man sich war, belegt auch die Forschung des Historikers Julian
       Rieck. Er nahm sich Berliner Fußballvereine in der NS-Zeit vor und schaute
       an Fallbeispielen, ob es wenigstens ein bisschen Widerspruch oder
       Unzufriedenheit gab.
       
       Beim BFC Germania 1888 aus Tempelhof beispielsweise, [3][dem ältesten noch
       existierenden Fußballverein Deutschlands], fand sich zwar kein
       Arierparagraf, weder in der Satzung von 1910 noch in der von 1935. Dass
       dies aber nichts zu bedeuten hat, legen die Befunde, die Rieck vorlegte,
       aber eben auch nahe. So verkündete Germania während des NS-Regimes stolz,
       man sei doch schon immer „judenfrei“ gewesen.
       
       ## Ausradiertes Gedächtnis an den jüdischen Fußball
       
       Auch jüdische Sportvereine existierten in Deutschland bis 1938. Ihre
       Mitgliederzahlen stiegen dabei – zumindest bis 1936 – sogar stark an. Im
       Bereich des Berliner Fußballs hatte es in den 1920er Jahren nur einen
       jüdischen Fußballverein gegeben, eine Abteilung des SC Hakoah Berlin, die
       Mitglied des Deutschen Fußballbundes (DFB) war, also auch des VBB. Noch bis
       Mai 1933 spielte Hakoah in der Kreisliga. Dann, im Juni, fehlte der Name
       plötzlich in der offiziellen Tabelle. Kein Hinweis auf eine Streichung,
       nichts. Das Gedächtnis an jüdischen Fußball war ausradiert.
       
       Und das macht die Aktualität der Studie aus, für die der BFV mit dem
       Institut für Antisemitismusforschung der TU zusammenarbeitet: Das blieb bis
       heute so. Lorenz Peiffer spricht von einem Phänomen der „Elektrifizierung“
       des sporthistorischen Erinnerns: „Im Januar 1933 hat jemand das Licht
       ausgemacht, im Mai 1945 ging es wieder an. Zwischendurch war nichts zu
       sehen.“
       
       Das lässt auch einen Bereich außen vor, für den die damals „arisch“
       genannten Berliner Fußballvereine sich nicht mal schämen müssten. Denn mit
       Rücksicht auf die Olympischen Spiele 1936 hatte das NS-Regime ihnen
       explizit Spiele gegen jüdische Mannschaften erlaubt. Nicht im Ligabetrieb,
       aber auf privater Basis, heute würde man Freundschaftsspiel sagen.
       
       Mindestens 48 Spiele waren es 1934 in Berlin, 1935 sogar mindestens 91
       Spiele, so Peiffer. Doch im Juli 1935 endete diese scheinbare
       Normalisierung abrupt. Der Grund war ein Frauenhandballspiel: Der Jüdische
       Turn- und Sportclub (JTSC) Berlin 05 hatte gegen den Berliner Meister
       gespielt, den Polizeisportverein Berlin (PSV).
       
       Weil der PSV aber nur mit neun Spielerinnen angereist war – beim
       Feldhandball wurden elf benötigt –, halfen zwei jüdische JTSC-Sportlerinnen
       beim PSV aus. Die NS-Presse schäumte über den „krassen Fall, dass
       fremdrassige Weiber in den Reihen der deutschen Frauen standen“. Kurz
       danach gab es keines dieser Spiele mehr, nicht in Berlin und auch nirgendwo
       anders im Deutschen Reich.
       
       ## Geschichtsblinde Festschriften
       
       Der Historiker Daniel Küchenmeister leitet das Projekt, mit dem der BFV nun
       seine Geschichte aufarbeiten lässt. Er nahm sich die Festschriften vor, die
       der 1897 gegründete Verband zu seinen Jubiläen vorgelegt hat. Die erste
       stammt von 1957, verfasst hat sie der auch zur NS-Zeit aktive Funktionär
       und Fußballpublizist Carl Koppehel. Kurzes Ergebnis: Die Rede ist in dessen
       Schrift wohl von einem „politischen Umschwung“. Ansonsten findet man
       Spielergebnisse, Finalansetzungen und Ligazugehörigkeiten. Den
       Nationalsozialismus scheint es im Berliner Fußball nicht gegeben zu haben.
       
       1972 stand das nächste Jubiläum an, der Berliner Fußballjournalist Lutz
       Rosenzweig verfasste die Festschrift. „Er folgte Koppehel fast
       vollständig“, so Küchenmeister. Sogar zum hundertjährigen Verbandsjubiläum
       1997, für das die Journalisten Wolfgang Hartwig und Günther Weise die
       Festschrift schrieben, gilt: „Die NS-Zeit findet nicht statt.“
       
       Das ist durchaus ungewöhnlich, hatte der BFV von 1949 bis 1970 mit Paul
       Rusch doch einen durchaus integren Präsidenten, der schon vor 1933 als
       Funktionär gewirkt hatte. Weil Rusch aus der Gewerkschaftsbewegung kam und
       die Nazis ablehnte, hatte er sich 1933 aus dem Sport zurückgezogen und war
       erst nach dem Krieg zurückgekehrt. In der 1997er-Festschrift stand indes,
       er habe erst 1945 die Bühne des Fußballsports betreten.
       
       Der DFB sah sich mit der WM 2006 im eigenen Land gezwungen, [4][seine
       Verbandsgeschichte von einem Historiker aufarbeiten zu lassen]. Nun, fast
       zwei Jahrzehnte später, folgt der Berliner Landesverband.
       
       Dass dies wichtig ist – auch wenn es sehr spät kommt –, darin waren sich
       die am Donnerstag versammelten Experten und Expertinnen einig. Was es für
       den Umgang mit heutigen Problemen bringt? Es sei das Problem aller gut
       gemeinten Aktionen gegen Rassismus und Antisemitismus, sagte KIgA-Leiter
       Derviş Hizarcı: „Sie kommen alle zu spät.“
       
       17 May 2024
       
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