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       # taz.de -- 100. Todestag von Franz Kafka: Er kommt einem nahe
       
       > Jeder Aspekt seines Lebens ist erforscht. Doch es bleibt ein
       > literarischer Überschuss, ein Geheimnis, die verblüffte Frage: Wie kommt
       > er darauf?
       
   IMG Bild: Der Verwandler: Franz Kafka 1913
       
       Am Schluss dieses nicht sehr langen, [1][aber intensiven Lebens,] das am 3.
       Juni 1924 endete, stehen Atemgeräusche: Tuberkulose. In seinen späten
       Erzählungen spielen sie auch eine wichtige Rolle. Ganz ohne labyrinthische
       Räume, Irrwege und höhere Späße rund um Schuldfragen geht es in ihnen
       natürlich auch nicht. Aber sie sind in seinen letzten Texten
       zurückgedrängt, und im erzählerischen Zentrum steht: ein Zischen und ein
       Pfeifen. Das Atmen, in seiner dringlichen Körperlichkeit.
       
       In der Erzählung „Der Bau“ beschreibt Franz Kafka die unheimliche Seite
       dieser Atemgeräusche – „unverändert dünn in regelmäßigen Pausen, einmal wie
       Zischen, einmal eher wie Pfeifen“. Aber „beschreiben“ ist gar nicht das
       richtige Wort, besser wäre es zu sagen, er macht etwas literarisch mit
       diesem Unheimlichen.
       
       Erzählt ist das aus der Ich-Perspektive eines in unterirdischen Gängen
       lebenden einzelgängerischen Tieres. Es wirkt zunächst ganz putzig, stellt
       sich allmählich jedoch als fleischfressendes Raubtier heraus, das
       verwesende Fleisch seiner Beute dünstet durch die Gänge des Baus. Ein Dachs
       vielleicht, vermutet der Kafka-Biograf Reiner Stach.
       
       Dieses Tier hört also ein Geräusch, das ihn alarmiert, dessen Ursache es
       aber nicht herausfinden kann. Es sucht und sucht, stellt umfangreiche
       Vermutungen an und fühlt sich von einem Feind verfolgt. Worauf dieses Tier
       aber partout nicht kommt, ist, dass dieses Zischen das Geräusch seines
       eigenen Atems ist. Vor der Außenwelt geschützt in seinem labyrinthischen
       Bau, wird das Tier gejagt von seinem eigenen Atmen. Was für ein Bild!
       
       Zu den vielen schönen Dingen bei Franz Kafka gehören solche ganz direkten
       und leicht eingängigen Motive. Entgegen dem Klischee, das bei ihm
       Dunkelheit und Verkünstelung verortet, ist Kafka unter den Großklassikern,
       die wir haben, der unmittelbar zugänglichste.
       
       ## Der zugänglichste Klassiker
       
       Bei Marcel Proust und James Joyce sind ohne Hilfe viele Anspielungen gar
       nicht mehr verständlich. Auch bei Thomas Mann braucht es längst
       kommentierte Ausgaben. Bei Kafka dagegen ist das anders. Die Ausgangslage
       der „Verwandlung“ („Als Gregor Samsa eines Morgens …“), die Dringlichkeit
       des „Briefs an den Vater“, auch das Anliegen des Affen in dem „Bericht an
       eine Akademie“, die vielen Szenen zwischen Männern und Frauen, in denen man
       nicht weiß, ob sie sich herzen oder miteinander ringen, das alles versteht
       man schon.
       
       Und auch [2][die erzählerischen Kniffe] – etwa das Stolpern beim Lesen,
       wenn die Freiheitsstatue in „Der Verschollene“ keine Fackel, sondern ein
       Schwert in der Hand trägt –, das funktioniert bis heute.
       
       Zugleich ist Franz Kafka aber auch ein Autor, den man hermeneutisch
       unglaublich hochdrehen kann. Dem pfeifenden Atem zum Beispiel widmet er
       sich auch in seiner letzten Erzählung „Josefine die Sängerin oder Das Volk
       der Mäuse“. Die erzählende Maus denkt darin sorgfältig über die Sangeskunst
       dieser Mäuse-Sängerin nach: „Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht
       vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es
       ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine
       Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen
       wir, aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben.“ Niemand,
       außer Josefine.
       
       Was Kafka aus dieser Idee macht, ist ein schillerndes Nachdenken über die
       Kunst, das gerade auch in Zeiten des autofiktionalen Schreibens, in
       denen die Literatur dem Leben nicht entgegensteht, sondern mit ihm
       verbunden ist, große Aktualität hat – ist es Gesang?, ist es „nur“ ein
       Pfeifen?
       
       Zum anderen macht Kafka daraus eine Reflexion über das Verhältnis von
       Einzelnem und Gemeinschaft. Will man aus der Gruppe herausragen, will man
       von ihr getragen werden? Das wird anhand von Josefine hin und her gewendet.
       In diesem Sinne löst diese Erzählung eine Forderung an Literatur ein, die
       Kafka einmal formuliert hat, nämlich, ein „ernstes Wort von Mensch zu
       Mensch“ zu sein. Und sie tut das auch in der aktuellen Situation, in der
       die Fragen nach Anerkennung jedes einzelnen Einzelnen zu einer
       gesellschaftlichen Triebkraft insgesamt geworden sind.
       
       ## Zentraler Autor der Moderne
       
       Man kann den zischenden und pfeifenden Atem gleichzeitig natürlich auch auf
       Kafkas Atembeschwerden beziehen, die mit der Tuberkulose einhergehen. Neben
       der Hochdeutung seiner Texte – als zentraler Autor des Absurden und der
       Moderne wurde er gesehen, der Poststrukturalismus verwendete seine
       „Strafkolonie“, um zu zeigen, wie der Diskurs sich in den Leib einschreibt
       – stellt die biografische Methode ja eine zentrale Herangehensweise an
       sein Werk dar.
       
       Darüber lässt sich viel über das Leben in seiner Zeit erfahren, über ihre
       patriarchale Ordnung und Geschlechterverhältnisse, bürgerliche Lebensformen
       und jüdische Assimilationsansätze. Doch in ihren realen Kontexten [3][gehen
       diese Texte nicht auf,] da ist immer noch ein literarischer Überschuss,
       eine Überraschung, ein verblüfftes „Wie kommt er bloß darauf?“.
       
       Es gibt offenbar etwas, was Kafka bei all den Bibliotheken der Deutungen
       seiner Texte vor dem endgültigen Ausgedeutetsein schützt. Theodor W. Adorno
       hat einfach recht, wenn er in seinen „Aufzeichnungen zu Kafka“ schreibt:
       „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“
       
       Jedenfalls ist bei der Erzählung „Der Bau“ eine Interpretation à la „Man
       entkommt sich eben selbst nicht“ genauso naheliegend wie ungenügend. Und
       die Sängerin Josefine ist eben beides, eine Hochstaplerin und eine große
       Künstlerin – man sollte sich da nicht für eine Seite entscheiden. Die
       letzten Sätze dieser Erzählung gehören übrigens zum Traurig-Tröstlichsten,
       was die Literatur insgesamt zu bieten hat.
       
       ## Die Genauigkeit seiner Einfälle
       
       Von Adorno stammt auch der Satz: „Nicht das Ungeheuerliche schockiert,
       sondern dessen Selbstverständlichkeit.“ Das hat er mit Blick auf die
       grausamen Szenen bei Kafka geschrieben, und das ist schon auch so. Mit
       Blick auf die späten Erzählungen, aber auch viele andere Stellen seines
       Werks, lässt sich anfügen, dass Kafka einem gerade nicht durch
       Sentimentalität, sondern in seiner Strenge und Kühle, in der Genauigkeit
       seiner Einfälle nahe kommen und bei veränderten gesellschaftlichen
       Konstellationen auch bleiben kann.
       
       Dieses Zischen und Pfeifen kann einen dabei ein Leben lang immer wieder
       anders begleiten. Ich weiß noch, mit welchem Ernst mein Schulfreund Olaf –
       wir hatten in Deutsch „Das Urteil“ gelesen – den Satz sagte: „Das ist
       faszinierend, ich weiß nur nicht, warum.“ Eigentlich ist das der zentrale
       Satz im Umgang mit Franz Kafka geblieben (Adorno drückt den Gedanken
       elaborierter aus, er spricht von der „Insistenz vor dem Geheimnis“). Es
       fasziniert einen, und man findet immer wieder andere Gründe, warum.
       
       Als der Satz fiel, gab es noch die alte Bundesrepublik. Nine-to-five-Jobs,
       Kleinfamilie, normal sein – das war die Hegemonie. Kafka allerdings zeigte
       einem die Fremdheit dieser Welt auf. Nicht nur er, aber er doch vielleicht
       am gründlichsten.
       
       ## Unendliche Sinnsuche
       
       Inzwischen hat sich viel geändert. Die Arbeitswelt wurde flexibilisiert,
       alle Institutionen winden sich durch ihre Krisen, unhinterfragte Normalität
       wurde abgeschafft. Von da aus liest man Kafka heute anders. Während uns
       damals mit dem Normalitätsparadigma im Rücken sehr beschäftigte, ob, was er
       schreibt, nicht doch irgendwie „verrückt“ ist – wir hatten andere
       Bezeichnungen dafür, „abgedreht“, sagten wir etwa –, kann man heute die
       Selbstverständlichkeit wahrnehmen, mit der seine Texte Identitätsprobleme,
       Sinnsuche und die alltägliche Selbstfindungsarbeit darstellen, die alle nie
       zu einem Ende kommen.
       
       Vielleicht ist die Welt seinen Texten sogar entgegengekommen. Heute
       jedenfalls scheinen Kafkas Erfindungen so real wie der Kölner Dom, die
       Atombombe, der Euro oder das Internet (das war alles einmal „ausgedacht“).
       Und durch die Ambivalenzen des Daseins geht man hindurch, und zwar mal
       zischend und mal pfeifend.
       
       3 Jun 2024
       
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