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       # taz.de -- Franz Kafka und die Frauen: Was nützt die Liebe in Gedanken?
       
       > Kafkas Liebesleben war so kompliziert wie vielfältig. Für sein Schreiben
       > war es Katalysator, Antrieb. Legendär sind aber auch seine Ängste.
       
   IMG Bild: Geliebte Milena Jesenská
       
       Man sieht so einiges auf Reisen. Landschaften. Städte. Die zwei kleinen
       Französinnen mit viel Fleisch um den Popo. Es ist nichts Ungewöhnliches
       daran, als junger Mann im Jahre 1911 all die schönen Dinge in einem
       Reisetagebuch auch zu notieren. Doch ein Franz Kafka, der derlei
       Betrachtungen anstellt und sich den Fleischesfreuden widmet, passt nicht so
       recht zu dem düsteren Bild des Prager Schriftstellers. Obwohl es sogar ein
       Foto von ihm in Badehose gibt.
       
       Ganz naheliegend ist es nicht, das Leben jenes Autors auf den sexuellen
       Moment hin zu untersuchen, dessen Schreiben um Scham, Autorität und
       Verkapselung kreist. Doch Kafka hatte bekanntlich mehrere Beziehungen und
       Affären. „Was für Verirrungen mit Mädchen trotz aller Kopfschmerzen,
       Schlaflosigkeit, Grauhaarigkeit, Verzweiflung“, schreibt er 1916 in sein
       Tagebuch, als gerade Schluss beziehungsweise Pause mit Felice Bauer ist.
       „Ich zähle: es sind seit dem Sommer mindestens sechs.“
       
       Es ist jene Beziehung mit Felice Bauer und die sie begleitende
       Korrespondenz, der wir zuvorderst das Bild Kafkas als in weltlichen Dingen
       unerfahrener Sonderling verdanken. Nach einer einzigen Begegnung walzt er
       die Berlinerin mit Briefen regelrecht nieder, verlangt von ihr
       Aufstellungen über Gesehenes, Gelesenes, Gegessenes, und sucht sie sogleich
       mit Poemen über die eigene Unzulänglichkeit von sich abzubringen.
       
       Kafka, das las Elias Canetti auch aus den Briefen heraus, sei unter allen
       Dichtern „der größte Experte der Macht“. Der Verliebte bringt Felice dazu,
       sich seinem manischen Tempo des Briefeschreibens anzugleichen, und stößt
       sie auch durch zwei geplatzte Verlobungen nicht von sich ab. Felice bleibt
       Kafka sogar verbunden, als der etwas mit ihrer Freundin Grete Bloch
       anfängt.
       
       Was da zwischen beiden „anfängt“ und keimt, lässt sich heute nicht mehr
       sagen. Kafkas Freund und späterer Herausgeber Max Brod ging so weit, den im
       Kindesalter verstorbenen Sohn Gretes Kafka zuzurechnen. Vor allem war die
       Beziehung zwischen Kafka und Grete jedoch eine, die sich in Briefen
       abspielte; ein Detail, das sich durch Kafkas Liebesleben zieht. Der Inhalt
       dieser Briefe scheint für einen Schuldspruch auszureichen; im [1][Juli 1914
       sitzen Felice und Grete (und Felices Schwester) im Hotel Askanischer Hof in
       Berlin über ihn zu Gericht].
       
       ## Briefe an Milena
       
       Nicht von ungefähr wird Kafka in Folge von verschatteten Tribunalen träumen
       und ein Justizsystem entwerfen, das seine Opfer über die Beweisführung im
       Dunkeln lässt. Auch, dass Josef K. im „Process“ um zwei dem Gericht
       nahestehende Frauen kreist, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen.
       
       Kafka schreibt den „Brief an den Vater“ 1919; in jenem Jahr, in dem die
       geplante Hochzeit mit Julie Wohryzek abgesagt wird. Man weiß wenig über
       Wohryzek, die aus deutlich einfacheren Verhältnissen stammt als Kafka, doch
       man weiß von der Ablehnung, auf die sie bei Kafkas Eltern stößt. Echos der
       Beziehung verhallen auch im „Schloss“; ob lauter oder leiser als jene
       Anklänge an die Zeit mit Milena Jesenská, Kafkas nächster Liebschaft, muss
       aufgrund fehlender Schriftzeugnisse der Beziehung Mutmaßung bleiben.
       
       Kafkas Briefe an die Journalistin Milena sind literarisch außergewöhnlich
       und eine eigene Kategorie für sich (kein Vergleich etwa mit den
       Liebesbriefen [2][James Joyces] an sein „dirty little fuckbird“ Nora).
       Trotzdem spricht er auch sexuelle Ängste an und träumt schon in den ersten
       Briefen an Milena, die später einige seiner Erzählungen übersetzen wird,
       davon, von ihr gemaßregelt zu werden. Gleichzeitig sucht er wieder, die
       Bewunderte von sich abzubringen. Oder sie zumindest auf Distanz zu halten,
       denn wie Kafka in einem Brief an Max Brod bekennt, könne er seines Hochmuts
       wegen „nur das lieben, was ich so hoch über mich stellen kann, dass es mir
       unerreichbar ist“.
       
       Bordellbesuche waren für ihn indes kein Problem. Für Kafka, stellt
       Kafka-Biograf Reiner Stach fest, war die Frau nur als Mutter oder
       Prostituierte zu haben.
       
       ## Experte der Macht
       
       Kafka ist sicher im gleichen Maße Experte der Macht wie ein Jünger der
       Angst. Ein Kontext, der ihn mit dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard
       verband, der Kafka sehr beschäftigte. Die offensichtlichste Parallele
       zwischen beiden bestand allerdings in ihren jeweils zweifach gelösten
       Verlobungen, die bei Kierkegaard zu Regine Olsen bestanden hatte. Obwohl
       es Kierkegaard war, der Regine mit Rücksicht auf seine philosophische
       Arbeit verließ, bezog er aus der Beziehung noch jahrelang Inspiration für
       seine Texte.
       
       Was nützt die Liebe in Gedanken? Für Kafka wie für Kierkegaard dürfte sie
       Katalysator gewesen sein, Antrieb, Feuerholz. Kafka verfasst „Das Urteil“
       in einer Nacht, beflügelt von der Liebe, die er in den Buchstaben seiner
       Briefe an Felice ausmacht. Dass Kafka die Liebe mehr liebt als die ihr
       zugehörige Frau, stellt er in seinen Tagebüchern fest. Es sei unrichtig zu
       sagen, „dass ich das Wort ‚Ich liebe dich‘ erfahren habe“, schreibt er
       1922, „ich habe nur die wartende Stille erfahren, welche von meinem ‚Ich
       liebe dich‘ hätte unterbrochen werden sollen.“
       
       Kafka zehrt vom Unglück, von Erschütterungen, die ihn über die Schwelle
       tragen, hinein ins Reich der Worte, dem er als Nachtkönig vorsteht. Grenzen
       lassen sich nicht unendlich oft übertreten, das weiß man aus Märchen wie
       aus eigenen Exzesserfahrungen, oder man liest es nach, zum Beispiel bei
       [3][Georges Bataille.] Den französischen Philosophen beschäftigte der
       Übertritt zwischen Erotik und Tod bis hin zur Auflösung im jeweils anderen.
       
       So ist es auch kein Wunder, dass ihn an Kafkas „Urteil“ die Behauptung Max
       Brods interessierte, für Kafka verdeutliche der tödliche Sprung von der
       Brücke am Ende der Erzählung eine gewaltsame Ejakulation. Kafka, so deutet
       es Bataille in seinem Essay über ihn, drücke damit die Freude aus über das
       Fallen ins Nichts, über das Aufgeben.
       
       ## Ins Schreiben fallen lassen
       
       Eine Deutung, die sich, so man sie teilen möchte, auch hinsichtlich Kafkas
       Krankheit aufdrängt. Als er 1917 mit Tuberkulose diagnostiziert wird,
       erlaubt ihm die Krankheit, aus dem Leben ins Schreiben zu fallen – ein
       Tuberkulosekranker heiratet nicht, Kafka beendet die Beziehung zu Felice
       endgültig.
       
       Als sich sein Zustand Jahre später sehr verschlechtert, Kafka endlich von
       der Versicherungsanstalt pensioniert wird, lässt er sich ins Leben fallen:
       Er lernt in einem Ostseebad [4][Dora Diamant kennen, seine letzte
       Partnerin], mit der er, 40-jährig und todkrank, sogar zusammenzieht.
       
       Wenn es stimmt, dass das Begehren dem Aufbegehren anverwandt ist, ließe
       sich vermuten, dass es sich bei dem Wogegen um aufgezwungene
       Moralvorstellungen handelt. Dabei sind es vielmehr die selbst gesetzten
       Grenzen, die Schranke zwischen Vernunft und Lust, die es zu überwinden
       gilt. Bei Kafka waren es die vielbeschworenen Gespenster, die ihn streiften
       und peinigten, gegen die er kämpfte. Wer den Kampf gewann, das lässt sich
       im Falle Kafkas an einem glücklichen oder unglücklichen Leben allein nicht
       ablesen.
       
       31 May 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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