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       # taz.de -- Spielfilm „Alle die Du bist“: Arbeit, Liebe, Resilienz
       
       > Ein nüchterner Blick auf die Arbeiterschicht, ein entrückter auf die
       > Liebe: Michael Fetter Nathanskys Film „Alle die Du bist“ ist exzeptionell
       > gut.
       
   IMG Bild: Arbeit, Liebe, Resilienz: Nadine (Aenne Schwarz) und Paul in „Alle die Du bist“
       
       Alle sind in hellem Aufruhr, nur sie ist es nicht. Nadine (Aenne Schwarz)
       bahnt sich einen Weg durch eine Traube gestresster Arbeiter und Bürokraten,
       deren Redeschwall auf sie niederprasselt. Paul, ihr Ehemann (Carlo Ljubek),
       hat sich im Keller des Unternehmens verbarrikadiert, in dem er sich um
       einen Job bemühen wollte. Doch nur wenige Minuten nachdem das
       Vorstellungsgespräch begann, stürmte er aus dem Büro.
       
       Nadine kennt den Grund für Pauls Verhalten, das bei den Umstehenden nur
       Unverständnis hervorruft. Mit routinierter Bestimmtheit klettert sie über
       die Absperrung und nähert sich mit beschwichtigenden Worten ihrem unter
       Angstzuständen leidenden Ehemann. Als sie, und auch die Kamera, ihn
       erstmals erblickt, steht er als stämmiger Ochse vor ihr. Sanft streichelt
       sie sein Fell, schmiegt sich an ihn, während der Blick des Tiers stoisch
       umherwandert.
       
       Paul wird im Laufe der Handlung immer wieder die Gestalt wechseln. Mal wird
       er als kleines Kind (Sammy Schrein) vor seiner Ehefrau kauern, sie mit in
       den Händen verborgenem Gesicht ängstlich um Verzeihung bitten für die
       Mühen, die er ihr bereitet. Kehrt sein Mut zurück, wird er sogar ein wenig
       waghalsig, begegnet er ihr als junger Erwachsener (Youness Aabbaz). Gelingt
       es ihm, sie in Sicherheit zu wiegen, kümmert er sich um sie, steht er
       Nadine plötzlich als mütterliche alte Dame (Jule Nebel-Linnenbaum)
       gegenüber.
       
       ## Die liebsamen und unliebsamen Bestandteile
       
       In „Alle die Du bist“ greift Regisseur und Drehbuchautor Michael Fetter
       Nathansky auf eine ähnliche Methodik zurück wie kürzlich in der
       [1][Tragikomödie „The Ordinaries“], die er zusammen mit Sophie Linnenbaum
       verfasste. Fungierte darin eine streng hierarchische (Kino-)Welt, in der
       Haupt- und Nebenfiguren um möglichst viel Spielzeit konkurrieren, als
       Metapher für soziale Ungleichheit, ist das Sinnbildliche auch in diesem,
       seinem neuen Film keine selbstzufriedene stilistische Spielerei.
       
       Das sich ständig wandelnde Erscheinungsbild Pauls ist das einzige
       surrealistische Element, das sich das ansonsten überaus realitätsnah
       erzählende Drama erlaubt. Und auch das dient einzig dem Ziel, die
       Wirklichkeit, wie Nadine sie wahrnimmt, ein wenig sichtbarer zu machen. In
       ihr zerfällt Paul gerade in seine Bestandteile, die liebsamen und
       unliebsamen, die seine Ehefrau sorgsam prüft und studiert, auf dass sie
       schlau daraus werde. Wahrhaftig widmen kann sie sich diesen Betrachtungen
       allerdings nicht.
       
       Denn „Alle die Du bist“ ist mindestens so sehr nüchternes Sozial- wie
       minimal magisches Liebesdrama. Um den Ehemann und die beiden kleinen
       Töchter kümmert sich Nadine neben ihrer Arbeit als Mechatronikerin in einem
       Betrieb, der den Fuhrpark eines rheinischen Bergbaukonzerns wartet und mit
       dem nahenden Kohleausstieg vor dem Aus steht.
       
       In der Werkstatt zeigt sich ein ähnliches Bild wie in ihrer Beziehung:
       Während die Kollegen in kopflose Panik verfallen, agiert sie mit
       taktierender Entschiedenheit, versucht die Belegschaft zu einen und zu
       beruhigen. Die Stimmung des Films changiert dabei meisterlich zwischen
       bleierner Schwere und dem Galgenhumor derer, die nichts anderes denn
       prekäre Verhältnisse gewohnt sind; denen nichts anderes bleibt, als diese
       Schwere auf die leichte Schulter zu nehmen, wollen sie nicht an ihr
       verzweifeln. Insbesondere [2][Sara Fazilat („Holy Spider“)] brilliert als
       hemdsärmelige Kollegin, die die Frustration über ihre eigene Ohnmacht mit
       vorlautem Witz überspielt.
       
       ## Die Widerstandsfähigkeit der Arbeiterschicht
       
       Lange dürfte es keinen Film mehr im deutschen Kino gegeben haben, der die
       besondere Widerstandsfähigkeit der Arbeiterschicht derart präzise einfängt,
       ohne sie zu idealisieren, ihre alltäglichen Strapazen bebildert, ohne in
       Bitterkeit zu verfallen.
       
       Diese Notwendigkeit, immerzu zu kämpfen, ist es wahrscheinlich auch, die
       der Ehe von Nadine und Paul zum Verhängnis zu werden droht; weshalb Nadine
       sich von ihrem Ehemann entfremdet. Wie „Alle die Du bist“ auf einer zweiten
       narrativen Ebene in traumartigen Rückblenden nahelegt, ist es allerdings
       auch diese gemeinsame Erfahrung, immerzu kämpfen zu müssen, das
       gegenseitige Stütze-Sein, was sie erst zusammenbrachte.
       
       Am Ende wird ein Satz stehen, der erneut mehr als alles andere Sinnbild
       ist. Eines, das voller Möglichkeiten steckt, ohne die Realität zu
       verklären. „Alle die Du bist“ entlässt so als außergewöhnliches
       Beziehungsdrama, das gleichsam wohltuend ätherisch und weltentrückt wirkt
       und dabei doch aus der Fülle des Lebens schöpft.
       
       2 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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