URI: 
       # taz.de -- Bewegungsforscher zu Klima-Hungerstreik: „Das ist kein Spiel“
       
       > Ist der Hungerstreik der Klimaaktivisten sinnvoll? Bewegungsexperte
       > Dieter Rucht sieht den Ernst der Aktion, zweifelt aber an ihrem Erfolg.
       
   IMG Bild: Aktivist Metzeler-Kick trägt Dauer des Hungerstreiks ein. Am Sonntag sind es bereits 87 Tage
       
       taz: Aktuell befinden sich [1][in Berlin vier Klimaaktivisten im
       Hungerstreik], einer von ihnen [2][schwebte bereits vorübergehend in akuter
       Lebensgefahr]. Die Aktivisten fordern eine Regierungserklärung, die die
       Gefahren der Klimakrise artikuliert. Sind Hungerstreiks als politisches
       Instrument wirksam? Welche Faktoren spielen dafür eine Rolle? 
       
       Dieter Rucht: Statistische Auswertungen gibt es dazu nicht. Manchmal werden
       die Forderungen Hungerstreikender ganz oder teilweise erfüllt, aber
       manchmal eben auch nicht. Zunächst einmal hängt der Erfolg davon ab, ob die
       gestellten Forderungen überhaupt erfüllbar sind. Auch die öffentlichen
       Reaktionen sind wichtig: Gibt es große Aufmerksamkeit oder sogar Sympathie?
       Zudem spielen individuelle Faktoren eine Rolle: Wer ist die Person? Sind
       ihre Forderungen glaubhaft oder wird die Person als irre abgetan? Abgesehen
       davon ist auch der Durchhaltewille und die Ernsthaftigkeit der Streikenden
       wichtig. In der Geschichte gab es es auch theatralische, nicht wirklich
       ernst gemeinte Hungerstreiks, so etwa den der Linken-Vorgängerpartei PDS
       1994. Dabei ging es um Steuererlasse für das Vermögen der SED. Schon von
       vornherein war klar: Die werden nicht bis zum bitteren Ende gehen.
       
       Ist das beim aktuellen Streik der Klimaaktivisten anders? 
       
       [3][Ernst gemeint ist der Streik der Klimaaktivisten definitiv]: Das ist
       kein Spiel, das dort betrieben wird. Die Aktivisten halten zum Teil
       wochenlang durch und begeben sich in Lebensgefahr. So schaffen sie es auch,
       mediale Aufmerksamkeit zu erregen. Ob die eher randständige Forderung nach
       einer Erklärung des Bundeskanzlers am Ende erfüllt wird, ist trotzdem
       unklar.
       
       [4][Scholz hat ja bereits gesagt, er würde die Forderung nicht erfüllen] –
       und sie zum Ende der Aktion aufgerufen. Würde er sich nicht erpressbar
       machen, wenn er auf die Forderung der Klimaaktivisten eingeht? 
       
       Ich würde in diesem Zusammenhang nie von Erpressung sprechen. Denn eine
       Erpressung würde voraussetzen, dass derjenige, der erpresst wird, einen
       gewaltigen Schaden erleidet, wenn er nicht auf die Forderung eingeht. Mit
       solchen Folgen müsste Scholz selbst im Falle des Todes des Klimaaktivisten
       nicht rechnen. Ob die Erfüllung der Forderungen positive oder negative
       Auswirkungen für den Kanzler hätte, ist hingegen schwer zu sagen: Geht er
       auf die Forderungen ein, könnte er als empathisch gelten. Auf der anderen
       Seite könnte das aber auch dazu führen, dass andere Gruppen mit obskuren
       Forderungen in den Hungerstreik treten. Stellen Sie sich nur vor, die AfD
       würde das machen.
       
       Hungerstreiks wurden historisch gesehen vor allem von Häftlingen oder
       anderen Menschen, die in Institutionen wie etwa Psychiatrien untergebracht
       waren, eingesetzt. Wie unterscheiden sich die Streiks Gefangener von denen
       der Klimaaktivisten? 
       
       Schon Sklaven traten im 19. Jahrhundert in Hungerstreiks, Palästinenser
       kündigten 2017 und 2021 zu Tausenden Hungerstreiks gegen ihre
       Haftbedingungen an. In texanischen Gefängnissen traten 2013 Zehntausende
       Häftlinge in den Hungerstreik. Diese Menschen haben normalerweise keine
       Möglichkeit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Insofern ist der
       Hungerstreik in diesen Fällen als letztes, verzweifeltes Mittel zu
       verstehen, das die Gefangenen anwenden können. Im Falle der Hungerstreiks
       von Klimaaktivisten sieht das anders aus. Meist geht es dabei um Leute, die
       in demokratisch regierten Ländern leben und viele Möglichkeiten haben, sich
       politisch zu beteiligen. So gesehen gibt es ein gewisses Missverhältnis
       zwischen der Drastik der Aktion und der Fülle von alternativen
       Möglichkeiten, mit denen die Aktivisten für ihr Anliegen werben können.
       Eigentlich würde ein Hungerstreik voraussetzen, dass alle anderen
       Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft wurden.
       
       Der [5][Aktivist Metzeler-Kick] argumentiert: Genau das sei bei der
       Klimakrise der Fall, alle anderen Möglichkeiten, sie zu stoppen, seien
       ausgeschöpft. 
       
       Das ist bestreitbar. Es ist auch unklar, ob Klimaaktivismus jenseits des
       Hungerstreiks zum Erfolg führen wird. Doch diese Unsicherheit gilt genauso
       für den Hungerstreik. Es ist möglich, dass einer der Aktivisten verstirbt.
       Selbst dann bleibt offen, ob die Klimapolitik dadurch entscheidend
       verändert werden würde.
       
       Das heißt, die Forderung, die die Hungerstreikenden aktuell stellen, könnte
       zwar erreicht werden, dass dadurch eine Kehrtwende in der weltweiten
       Klimapolitik angestoßen wird, ist aber äußerst unwahrscheinlich? 
       
       Genau. Das unterscheidet auch die Hungerstreiks der Klimaaktivisten von
       denen Gefangener. Als Tausende palästinensische Gefangene hungerten, um
       gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren, wäre ein Federstrich des
       israelischen Regierungschefs ausreichend gewesen, um die Forderungen zu
       erfüllen. Wenn in Sachen Klimapolitik ein fundamentales Umsteuern gefordert
       wird, ist das nicht in dieser Weise umzusetzen: Die Klimapolitik in China
       wird von einem toten Hungerstreikenden in Berlin sicher nicht beeinflusst.
       Außerdem wird die Aufmerksamkeit, die es im Falle des Todes eines
       Aktivisten geben würde, schnell verfliegen. Das zeigt auch der Fall von
       Hartmut Gründler, einem Anti-Atomkraftaktivisten, der sich nach einem
       erfolglosen Hungerstreik 1977 vor der St. Petrikirche in Hamburg
       verbrannte! Selbst dieser extreme Fall ist kaum jemandem präsent. Dass
       Einzelne die Möglichkeit haben, die politische Öffentlichkeit nachhaltig zu
       beeinflussen, ist äußerst selten.
       
       Würden sie der Klimabewegung also davon abraten, das Mittel des
       Hungerstreiks zu verwenden? 
       
       Ja, ich würde davon abraten. Ich respektiere zwar, dass die Leute das tun
       und aufrichtig handeln. Doch der bescheidene Effekt, der durch den
       Hungerstreik erreicht werden könnte, steht in keinem Verhältnis zu der
       drastischen Aktion und den möglichen Konsequenzen für die Aktivist:innen.
       
       2 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Hungerstreik-fuer-bessere-Klimapolitik/!6014173
   DIR [2] /Hungerstreik-in-Berlin/!6010394
   DIR [3] https://hungern-bis-ihr-ehrlich-seid.de/
   DIR [4] /Klima-Protest/!6014197
   DIR [5] /Hungerstreik-in-Berlin/!6009262
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joscha Frahm
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimaproteste
   DIR Hungerstreik
   DIR Umweltaktivisten
   DIR Social-Auswahl
   DIR Klimajournalismus
   DIR Hungerstreik
   DIR Hochwasser
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Hungerstreik
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Hungerstreik
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Besuch bei Cornelia Funke in der Toskana: Eine perfekte Erzählung
       
       Cornelia Funke hat mit ihren Jugendromanen eine ganze Generation geprägt.
       Nun widmet sie sich dem Klimaschutz. Woher dieser Sinneswandel?
       
   DIR Klima-Hungerstreik: Appell an die SPD
       
       Der Hungerstreikende Wolli ist in lebensbedrohlichem Zustand. Die Letzte
       Generation appelliert an der Fassade des Willy-Brandt-Hauses an Olaf
       Scholz.
       
   DIR Flutkatastrophe in Süddeutschland: „Ein Hinweis, dass was los ist“
       
       Die Zahl der Hochwassertoten in Süddeutschland steigt. Bundeskanzler Scholz
       prophezeit, dass sich Fluten im Land weiter häufen werden.
       
   DIR Hungerstreik für bessere Klimapolitik: „Bild“ kann Leben retten
       
       Hungerstreikende wollen, dass der Kanzler die Wahrheit über die
       Klimakatastrophe sagt. Er tut es nicht. Ihr Plan B: Die „Bild“-Zeitung soll
       es sagen.
       
   DIR Hungerstreik für bessere Klimapolitik: Das letzte Mittel?
       
       Seit Wochen sind in Berlin vier Männer im Hungerstreik, um auf die
       Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Einer von ihnen könnte bald sterben.
       
   DIR Klima-Protest: Hungerstreikende schelten Kanzler
       
       In Berlin verweigern vier Klima-Protestierende die Nahrungsaufnahme. Der
       Kanzler fordert sie auf, aufzuhören. Sie wollen weitermachen.
       
   DIR Hungerstreik in Berlin: Klimaaktivist in Lebensgefahr
       
       Der Kanzler soll die Gefahren der Klimakrise benennen, fordert Wolfgang
       Metzeler-Kick. Seit März ist der Aktivist daher im Hungerstreik – mit
       Folgen.
       
   DIR Hungerstreik in Berlin: Bis zum Äußersten gehen
       
       Ein Klimaaktivist, der seit März keine Nahrung mehr zu sich nimmt, will
       seinen Protest verschärfen. Das soll Kanzler Scholz unter Druck setzen.