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       # taz.de -- Parlaments- und Europawahl in Bulgarien: Sofia in Brüssel
       
       > Zeitgleich wird in Bulgarien für die EU und die neue Nationalversammlung
       > abgestimmt. Dabei spielen europäische Themen eine untergeordnete Rolle
       
       Die Bulgar*innen hätten allen Grund, sich am kommenden Wochenende den
       Gang an die Urne zu sparen. Sie sind aufgefordert, nicht nur über ihre
       Vertreter*innen im nächsten EU-Parlament zu entscheiden, sondern auch
       über die Zusammensetzung ihrer Volksvertretung – und das [1][zum sechsten
       (!) Mal innerhalb von drei Jahren]. Eine gewisse Wahlmüdigkeit wäre da nur
       allzu verständlich. Aber so weit ist es ganz offensichtlich noch nicht:
       Zwischen 45 und 48 Prozent der Wähler*innen immerhin wollen von ihrem
       Stimmrecht Gebrauch machen. Das ist vielleicht eine gute Nachricht.
       
       Eine weniger gute ist, dass es in Bulgarien, einem immer noch weithin wenig
       beachteten Land an der Peripherie Europas, das seit 2007 Mitglied der EU
       ist, wohl nicht zu dem erhofften Befreiungsschlag kommen wird, sprich: Es
       wird keine stabilen Mehrheitsverhältnisse geben.
       
       Was geht da nur vor bei den Bulgar*innen, die Otto von Bismarck als
       „Preußen des Balkans“ (gegendert wurde damals noch nicht) bezeichnet hatte?
       
       Im Sommer 2020 schaffte es Bulgarien in die internationalen Schlagzeilen.
       Wochenlang gingen Zehntausende gegen Korruption, Oligarchentum und einen
       „mafiösen Staat“ auf die Straße. Adressat der Massenproteste war vor allem
       [2][Bojko Borissow] von der rechtszentristischen Partei „Bürger für eine
       europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB), zu diesem Zeitpunkt mit
       Unterbrechungen seit elf Jahren Regierungschef.
       
       Mit dem Rücktritt des ehemaligen Bodyguards 2021 begann, so schien es
       jedenfalls, die „Post-Borissow-Ära“. An die Macht kam eine
       Viererkoalition unter Führung der liberalen proeuropäischen Partei „Wir
       setzen die Veränderungen fort“. So nannte sich die neue bulgarische
       Plattform, die aus den Protesten hervorgegangen war, kurz: PP.
       
       Nach sechs Monaten war das Experiment beendet. Zu einem Sargnagel für die
       Koalition wurde der Beginn von [3][Russlands Angriffskrieg gegen die
       Ukraine] am 24. Februar 2022, weil sich die mitregierenden traditionell
       russlandaffinen Sozialisten (BSP) mit immer noch guten Kanälen nach Moskau
       Waffenlieferungen an Kyjiw widersetzt hatten.
       
       In den folgenden zwei Jahren regierten Koalitionen in unterschiedlichen
       Zusammensetzungen, wobei stets das Motto galt: Nach der Wahl ist vor der
       [4][Wahl. Am 2. April 2023] durften die Bulgar*innen erneut in den
       Wahllokalen antreten. Die GERB wurde mit 26,5 Prozent stärkste Kraft, die
       PP landete knapp dahinter auf dem zweiten Platz. Als Grundlage für eine
       Zusammenarbeit wurde ein Wechsel im Amt des/r Regierungschef*in nach
       neun Monaten vereinbart, den Anfang machte die PP. Doch auch dieser Deal
       platzte.
       
       Es ist völlig klar: Schöner wird es nicht. Glaubt man aktuellen Umfragen,
       die für beide Wahlen ähnliche Trends ausweisen, dürfte Borissows GERB
       erneut das beste Ergebnis (27 Prozent) einfahren. Um Platz zwei
       konkurrieren weit abgeschlagen neben der PP die Bewegung für Rechte und
       Freiheiten (DPS) sowie die rechtsradikale Partei Wasraschdane
       (Wiedergeburt). Letztere zwei Gruppierungen sind alles andere als
       Sympathieträger. Co-Chef der DPS, die sich vor allem als
       Interessenvertreterin der türkischen Minderheit versteht, ist [5][Deljan
       Peewski]. Gegen den Oligarchen, Unternehmer, Medienmogul und Abgeordneten
       im bulgarischen Parlament verhängten die USA 2021 Sanktionen in
       Zusammenhang mit Korruptionsfällen, zwei Jahre später zog Großbritannien
       nach.
       
       ## Ein Teil der Bulgar*innen orientiert sich gen Osten
       
       Die prorussische Wasraschdane, die drei der 17 EU-Mandate Bulgariens holen
       könnte, bietet das bekannte rechtsradikale Portfolio: Forderung nach einem
       Referendum über einen Austritt Bulgariens aus EU und Nato, Hetze gegen
       Juden und Roma sowie die Propagierung „traditioneller“ Familienwerte.
       
       Die Rhetorik kommt bei Teilen der Gesellschaft an. Vor allem eine wachsende
       Zahl junger Menschen in Bulgarien ist für antidemokratische Ideen
       empfänglich, wie Untersuchungen zeigen. Dazu passt dann vielleicht auch,
       dass EU-Themen im Wahlkampf aller Parteien kaum vorkommen.
       
       Diese Unterlassungssünde könnte sich bitter rächen. Denn der zu erwartende
       innenpolitische Stillstand in Bulgarien könnte die proeuropäische
       Orientierung des Landes, aber auch Sofias Position in Brüssel entscheidend
       schwächen. Boris Borissow hat nur wenig Interesse, grundlegende
       Justizreformen inklusive Korruptionsbekämpfung voranzutreiben. DPS-Co-Chef
       Dejan Peewski, ein möglicher Koalitionspartner, gibt zwar den überzeugten
       Europäer, doch das kaufen ihm nur wenige ab.
       
       Die scheidende Regierung hatte einen vollständigen Beitritt Bulgariens zum
       Schengen-Raum und der Euro-Zone zum Ziel erklärt. Das wird warten müssen,
       es sei denn, Sofia würde sich eindeutig für eine Reform der EU
       positionieren – vor allem, was die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips
       angeht.
       
       Übrigens: Boris Borissow war bis 2021 ein gern gesehener Gast in Brüssel,
       hofiert vom damaligen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und dem
       [6][EVP-Vorsitzenden Manfred Weber]. Aber auch Ex-Kanzlerin Angela Merkel
       stand mit Borissow auf gutem Fuß. Der Bulgare zeigte sich geschmeidiger im
       Umgang und weniger widerborstig als Ungarns Regierungschef Viktor Orbán.
       
       Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die mit jedem kuscheln würde,
       wenn es denn dem eigenen Machterhalt dient, setzt diesen Kurs fort. Bei
       einem Treffen mit Borissow in Plowdiw vor wenigen Tagen raspelte sie
       Süßholz. Die GERB werde die Zerstörung europäischer Werte nicht zulassen.
       Und: Die Stimme Bulgariens werde in Brüssel gehört, sagte sie. Wie bitte?
       
       Dass sich die Bulgar*innen, aus welchen Gründen auch immer, für den Status
       quo ante entscheiden, hat schon etwas Tragisches. Dass Brüssel jedoch
       wieder wegsieht, ist ein Armutszeugnis.
       
       5 Jun 2024
       
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