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       # taz.de -- Erdrotation und Zeit: Die Erde dreht sich schneller
       
       > Seit 1972 gab es 27 Schaltsekunden, weil ein Jahr nicht der Umlaufzeit
       > der Erde um die Sonne entspricht. Es könnte negative Schaltsekunden
       > geben.
       
   IMG Bild: Die Weltzeituhr am Berliner Alexanderplatz
       
       Der perfekte Tag sollte 86.400 Sekunden haben: 24 Stunden, in denen sich
       die Erde um ihre eigene Achse dreht, 60 Minuten in jeder Stunde und 60
       Sekunden in jeder Minute. Doch die scheinbare Präzision dieser einfachen
       Berechnungen ignoriert die chaotische Realität planetarer Körper. Die
       Gezeitenkräfte in Verbindung mit den turbulenten Strömungen im Erdkern und
       der Umverteilung der Eisschichten an der Erdoberfläche führen dazu, dass
       die Rotationsgeschwindigkeit des Planeten von Jahr zu Jahr leicht schwankt.
       
       Dieses Ärgernis wurde 1967 mit der Definition einer neuen Sekunde
       beseitigt, die aus den Schwingungen von Cäsiumatomen in [1][hochpräzisen
       Atomuhren] abgeleitet wird. Die beiden Sekunden, die Sonnensekunde und die
       Atomsekunde, sind fast gleich lang. Aber nicht ganz. Das Schaltjahr 1972
       zum Beispiel hätte 31.622.400 Sekunden haben müssen. In Atomsekunden
       gerechnet dauerte ein kompletter Umlauf der Erde um die Sonne aber
       31.622.401,14 Sekunden. Deshalb wurden zwei Sekunden hinzugefügt: die
       ersten „Schaltsekunden“. Die erste, am 30. Juni desselben Jahres, glich die
       Verspätung aus, die zweite nahm eine weitere Sekunde vorweg. Sie wurde in
       der allerletzten Minute des allerletzten Tages des Jahres hinzugefügt.
       
       Eine Zeit lang waren Schaltsekunden ein fester Bestandteil des Jahres.
       Zwischen 1972 und 2016 gab es 27 Schaltsekunden. Seither gab es keine mehr,
       weil sich die Erdrotation allmählich beschleunigt und die Sonnensekunde mit
       der Atomsekunde gleichzieht. Tatsächlich müssen die Zeitforscher des
       International Earth Rotation Service (IERS), der für die Festlegung der
       Schaltsekunden zuständig ist, in den kommenden Jahren möglicherweise eine
       völlig neue „negative Schaltsekunde“ einführen. An einem künftigen 31.
       Dezember würde dann auf den Mitternachtsschlag eine 59-Sekunden-Minute
       folgen. Solche Anpassungen sind eine lästige Angelegenheit für
       Organisationen, die auf eine perfekte Zeitmessung angewiesen sind, von der
       Börse bis zu den Stromnetzen. Eine neue Studie legt jedoch nahe, dass der
       Klimawandel ihnen willkommene zusätzliche Zeit verschaffen wird.
       
       Duncan Agnew ist Geophysiker an der University of California in San Diego
       und hat großes Interesse an der Zeitmessung. In der im Fachmagazin Nature
       veröffentlichten Arbeit hat er die verschiedenen Faktoren entschlüsselt,
       die die Beschleunigung der Erdrotation verursachen. Dazu nutzte er eine
       Reihe von Datenquellen, darunter Lasermessungen des Abstands zwischen Erde
       und Mond, Störungen der Erdanziehung und Aufzeichnungen alter
       [2][Sonnenfinsternisse].
       
       ## Beschleunigung der Erdrotation
       
       Er kam zu dem Schluss, dass die jüngste Beschleunigung zum Teil auf Ströme
       zurückzuführen ist, die durch den geschmolzenen Erdkern fließen. Auch das
       Abschmelzen des Polareises seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 12.000
       Jahren hat dazu geführt, dass sich die Erdrotation beschleunigt. Das
       Gewicht des Eises drückte die Pole zusammen, und als es dann verschwand,
       konnte sich die Erdkruste wieder erholen und kugelförmiger werden. Dies
       führte zu einer Beschleunigung der Erdrotation – einem Effekt, den man von
       Schlittschuhläufern kennt, die ihre Arme anziehen, um sich schneller zu
       drehen.
       
       Agnew hat auch Effekte gefunden, die in die andere Richtung gehen. In den
       letzten Jahrzehnten hat der Klimawandel die Eisschilde Grönlands und der
       Antarktis schrumpfen lassen, wodurch Wassermassen vom Land in die Ozeane
       verlagert wurden, wo sie neu verteilt werden. Durch die Verringerung der
       Masse der beiden Regionen verringert das Schmelzen ihre Anziehungskraft,
       was letztendlich dazu führt, dass das Wasser von ihren Küsten „weggedrückt“
       wird.
       
       So sammelt sich das vom grönländischen Eisschild verlorene Wasser vor allem
       in Äquatornähe und auf der Südhalbkugel. Für das vom antarktischen
       Eisschild freigesetzte Wasser gilt mehr oder weniger das Gegenteil.
       Glaziologen, die den Weg all dieser Wassermassen vom Land in die Ozeane
       verfolgt haben, stellten daher eine Verlagerung von den Polen weg in
       Richtung Äquator fest. Das bedeute, dass die Taille der Erde dicker wird,
       sagt Jonathan Bamber, Glaziologe an der Universität Bristol. Der Effekt ist
       nicht riesig – er wird in Millimetern pro Jahr gemessen –, aber er reicht
       aus, um die Erdrotation zu verlangsamen.
       
       Auch die Notwendigkeit einer negativen Schaltsekunde wird dadurch
       hinausgezögert. Ohne Klimawandel müsste das IERS eine solche nach heutigem
       Trend bereits in zwei Jahren einführen. Nach den Berechnungen von Duncan
       Agnew haben sie bis 2029 Zeit. In dieser Zeit können Software-Ingenieure,
       die Systeme mit Abhängigkeit von der Präzision von Atomuhren betreiben,
       neue Programme entwickeln. Diese sollten mit der negativen Schaltsekunde
       umgehen können.
       
       Alternativ könnte das IERS diese Zeit nutzen, um das Konzept ganz
       abzuschaffen. Sonnensekunden und Atomsekunden dürfen bereits um eine
       Sekunde voneinander abweichen. Eine Ausdehnung dieser Toleranz auf eine
       Minute würde die Notwendigkeit von Schaltsekunden aller Art für die
       nächsten Jahrzehnte wahrscheinlich beseitigen. Für [3][Zeitmesser] auf der
       ganzen Welt könnte dies der perfekte Tag werden.
       
       © The Economist, Übersetzung aus dem Englischen von Enno Schöningh
       
       6 Jun 2024
       
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