URI: 
       # taz.de -- Prokofjew-Oper in Bremen: Zitrussex für Demokraten
       
       > Oper kann lustig sein, schön und frei von jedem Zug ins Totalitäre: Sehr
       > vergnüglich erinnert daran „Die Liebe zu den drei Orangen“ in Bremen.
       
   IMG Bild: Gottlob! Dank den Störenfrieden und einem Eimer Wasser wird die letzte der Orangen gerettet
       
       Hochdramatisch schmettert der endlich zu Heldenmut und Liebesglut erwachte
       Prinz von den oberen Rängen des Bremer Theaters ins Publikum hinab: „Ich
       fürchte nicht den Löffel!“ Den Löffel? Oh ja, den Löffel, denn der ist die
       furchteinflößende tödliche Waffe in „Die Liebe zu den drei Orangen“.
       
       Und diese Verspottung des traditionellen Opernpathos mit seinen eigenen
       Mitteln ist einfach immer noch zum Piepen komisch. Dabei kann die
       parodistische Energie an dieser Stelle ja nicht mehr überraschen.
       
       Schon allein, weil unmittelbar zuvor Tenor Ian Spinetti in der Rolle des
       namenlosen Königssohns mit herrlichstem lyrischem Schmelz und im
       Fortissimo vom Balkon aus seine passionierte, erotische [1][Bindung an
       Zitrusfrüchte geschmettert hat]: „Ich lieeebe“, so singt er auf Deutsch und
       exzellent verständlich „drei Orangen.“
       
       Nach dieser ungewöhnlichen Leidenschaft heißt die 1921 in Chicago
       uraufgeführte Oper ja auch. Bloß: Stünde da statt der Apfelsinen ein Name,
       so könnte dieser glanzvoll eine Oktav durchschreitende Melodiebogen auch
       ganz ernst gemeint in einer der schwülstigen [2][Pietro-Mascagni]- oder
       [3][Umberto-Giordano-Opern] stehen, die [4][damals] schwer in Mode waren.
       
       ## Modern – und doch nicht schwierig
       
       Allerdings, da steht nun mal Apfelsinen. Und Sergej Prokofjew, der 1919 die
       Musik schrieb und auch den Text nach einem Entwurf Wsewolod Meyerholds
       verfasst hat, war eben kein Faschist gewesen, ja überhaupt nicht totalitär.
       
       Ihm ging es nicht darum, das Publikum angenehm in sämig-reaktionären
       Klangsuppen zu ersäufen. Stattdessen hat er trillernd-witzige und
       bösartig-dissonante Akzente gegen die betäubend-schwitzige Gefühligkeit
       gesetzt, die Musik gerade in der Oper befördern und entfalten kann. „He
       makes opera safe for democracy“ [5][hatte die zeitgenössische amerikanische
       Fachpresse die politische Dimension seines Stils bemerkt], also im Grunde:
       Er macht diese Kunstform demokratietauglich.
       
       Dazu gehört eben auch, dass dem Ukrainer jeder Zug ins Elitäre fern lag,
       obwohl er kompromisslos modern komponiert und sich aus dem Tonarten- und
       Geschlechterkorsett befreit hat: „Es gibt nichts Schwieriges an dieser
       Musik“, so der Uraufführungskritiker Ben Hecht.
       
       Gerade für das ungeübte Ohr habe der Orchesterklang „eine charmante
       Launenhaftigkeit“, drehe Pirouetten, rodele, spinne: „Es klingt wie das
       Bild eines verrückten Weihnachtsbaums, das ein glückliches Kind gemalt
       hat.“
       
       Das gilt natürlich besonders für den schrägen As-Dur-Marsch. Den erkennen
       Sie, weil John Williams ihn unter Beseitigung seiner wehrkraftzerstetzenden
       Sprünge und pazifistischen Hüpfer für die „Krieg der Sterne“-Filmmusik
       geklaut, mit Blech vollgepumpt und plattgedrückt hat. Aber eigentlich
       trifft es auf alle Elemente dieser Oper zu.
       
       Und sowohl die Inszenierung von Frank Hilbrich, als auch Sebastian Hannaks
       von leuchtend farbigen Quadermodulen geprägte Bühne und das beschwingte
       Spiel der von Sasha Yankevych angeleiteten Philharmoniker vermögen in
       Bremen den nervösen Humor und das sportive Tempo der Vorlage wunderbar in
       den Theaterraum zu übertragen. Das macht Freude und ist ein schöner
       Abschluss der Opernsaison.
       
       Dabei verdrängt er bei aller Albernheit nicht den blutigen Ernst des Werks.
       Der brodelt in seinem Hintergrund so, wie in jener Küche, in der Hidenori
       Inoue als anthropophage, aber leicht ablenkbare Köchin mit Mordslöffel und
       bedrohlich-tiefem Bass regiert. Und eben auch die Pomeranzen hütet.
       
       Erzählt wird das verwicklungsreiche von Carlo Gozzi im 18. Jahrhundert
       ersonnene Märchen von einem an Melancholie erkrankten Prinzen. Der vom
       besorgten Vater (ebenfalls Inoue) engagierte Clown Truffaldino (Fabian
       Düberg), hat jedenfalls nur Scheißwitze mit Luftballons auf Lager, was die
       Stimmung nur noch trüber werden lässt.
       
       ## Rettung durch Schadenfreude
       
       Vom Unvermögen, zu lachen, heilt den Prinzen aber, völlig entgegen ihrer
       Absicht, die von Nadine Lehner böse gut gesungene fiese Fee Fata Morgana,
       versehentlich, indem sie sich gemein das Bein stößt: „Hahaha-haa!“,
       bricht's schadenfroh aus Ian Spinetti aus, „Hahaha-haa“, zitiert Prokofjew
       hier Ludwig van Beethovens Fünfte.
       
       Fata Morgana tut das in der Seele leid. Sie versucht sich zu rächen, indem
       sie dem Prinzen die ja echt etwas abartig anmutende Orangenliebe anhext.
       Doch auch, wenn von den dreien zwei, kaum sind sie geschält, verdursten,
       wird auch diese ungewöhnliche Objektwahl ihm letztlich den Weg zu sexueller
       Erfüllung und Regierungsfähigkeit ebnen.
       
       Umrahmt und in entscheidenden Momenten gestört wird das vom – bereits durch
       Meyerhold ins Drama hineingetragen – lächerlichen Streit um die richtige
       Bühnenkunst. Den hat der zunächst im Publikum platzierte Chor über die
       Sitzreihen hinweg und quer durch den Saal, später dann auch auf der Bühne
       auszutragen, mit erhobenen Fäusten und sinnfreien Transpis.
       
       Nein, an die blutigen Kämpfe um den Prokofjew-Flughafen wird man hier
       nicht denken müssen. Eher mögen diese Szenen an gegenwärtige Kulturkämpfe
       erinnern – was die wahre Flut an Orangen-Inszenierungen erklären könnte:
       Zwischen Flensburg und Fürth ist die Bremer Produktion eine von acht in der
       laufenden Spielzeit.
       
       Gerade indem Hilbrich sie so direkt in den Saal montiert und dem Publikum
       auf den Pelz rücken lässt, macht er den Widerschein der historischen
       Auseinandersetzungen kenntlich, in denen postrevolutionär um ein dem
       Sozialismus angemessenes Theater gerungen wurde. Oh, und noch so voller
       Hoffnung, als Prokofjew „Die Liebe zu den drei Orangen“ schrieb.
       
       Meyerhold ist dann, als Protagonist dieses Streits, erschossen, Prokofjew
       als Volksfeind geächtet worden. Das gute Ende bleibt nun mal das alleinige
       Vorrecht des Märchens.
       
       9 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!1719862
   DIR [2] https://diariohoy.net/interes-general/pietro-mascagni-un-musico-al-servicio-del-fascismo-195888
   DIR [3] https://www.nutrirsi.eu/diario/la-musica-nell-italia-fascista
   DIR [4] https://www.nytimes.com/1932/11/13/archives/italys-custommade-anthem-new-decadal-hymn-of-giordano-commissioned.html
   DIR [5] https://archive.org/details/sim_musical-america_1921-11-19_35_4/page/3/mode/1up?q=oranges&view=theater
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
   DIR Ukraine
   DIR Oper
   DIR Theater Bremen
   DIR Bremen
   DIR SPD Bremen
   DIR Kindertheater
   DIR Deutsches Theater
   DIR Staatsoper Berlin
   DIR Literatur
   DIR Deichtorhallen Hamburg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nekrolog mit Ausrutscher: Wichtige Rede mit bösem Jargon
       
       Mehr als traurig: Bremer Kulturstaatsrätin nutzt Hetzworte gegen
       Journalisten, um des verstorbenen Theater-Intendanten Michael Börderding zu
       gedenken.
       
   DIR Theater über Fremde und Freundschaft: Es war einmal ein Migrationshintergrund
       
       Machtkampf im Einwanderungswald: Das Theater Bremen bringt das Kinderbuch
       „Funklerwald“ auf die Bühne.
       
   DIR Peter Pan im Deutschen Theater Berlin: Zwei ist der Anfang vom Ende
       
       Der Traum von ewiger Jugend wird in „Wasteland: Peter Pan“ zum Albtraum.
       Die Kollektiv-Inszenierung gleicht einer unfertigen Baustelle mit viel
       Potenzial.
       
   DIR Die Staatsoper Berlin open air: Bitte keinen Regen am Bebelplatz
       
       „Staatsoper für alle“ spielt auf dem Bebelplatz umsonst und draußen. Es ist
       ein Fest mit neuer Opernmusik und alten Fußballhymnen.
       
   DIR Regisseurin über russischen Autor Charms: „Wie Nawalny, nur 100 Jahre früher“
       
       Daniil Charms konnte komisch schreiben und wurde im Stalinismus wiederholt
       inhaftiert. Erla Prollius hat aus seinem Leben ein Theaterstück gemacht.
       
   DIR Ausstellung über die Kunst des Blödsinns: Schön albern
       
       Die Hamburger Deichtorhallen zeigen eine Ausstellung über ernsthaft
       inszenierte Albernheiten in der Kunst. Dabei verwässert der historische
       Bezug.
       
   DIR Goethe-Institut Nowosibirsk eröffnet: Frühlingserwarten
       
       Morgen könnte hier alles zu neuem Leben erwachen - oder aber den Bach
       runtergehen. Eine Reise nach Nowosibirsk inklusive Einblicken in die
       dortige quirlige Kulturszene.