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       # taz.de -- Ukrainisch-britisches Jazz-Duo: Spirituelle Fusion
       
       > Auf ihrem Album „Altera Vita“ geben Alina Bzhezhinska und Tony Kofi mit
       > Harfe und Saxofon „Antwort auf eine Welt, die einen Reset braucht“.
       
   IMG Bild: Alina Bzhezhinska und Tony Kofi spielen und improvisieren schon lange gemeinsam
       
       Alles beginnt mit perlenden Harfenklängen, sie tönen mal leicht, mal sehr
       bestimmt – dann schließlich mit Nachdruck. Für wenige Sekunden münden sie
       in Stille, dann setzt eine melancholische Saxofonmelodie ein, die elegant
       von der Harfe umspielt wird. Dieses leichtfüßige, eingängige Tänzeln
       zwischen Ambient und Jazz beider Instrumente wird gebrochen von einer
       energiegeladenen, beinahe aggressiven Harfenimprovisation, an die
       schließlich wieder das Saxofon mit der schon bekannten Hookline anknüpft.
       Die Klangstruktur durchläuft eine Entwicklung, ist am Ende des
       fünfeinhalbminütigen Songs trotz der Einfachheit der Bestandteile komplex.
       
       „Altera Vita – Another Life“ lautet der Titel nicht nur dieses Songs,
       sondern auch des Albums der [1][ukrainischen Harfenistin Alina Bzhezhinska]
       und des britischen Saxofonisten Tony Kofi. Die Musik des Duos fühlt sich
       tatsächlich wie ein anderes Leben an, inmitten globaler Krisen. In den
       Genuss dieser kontemplativen Sounds kommen zu dürfen und die Aufmerksamkeit
       auf die schlichte, an keine bestimmte Zeit und Trends gebundene Schönheit
       des Zusammenspiels aus Harfe und Saxofon zu richten, tut gut.
       
       „Die Musik ist unsere spontane Antwort auf eine Welt, die dringend einen
       Reset braucht“, heißt es passend in den Liner Notes. Sie bezeichnen „Altera
       Vita“ auch als „akustische Oase“. Es handelt sich um das Debüt der beiden
       Musiker*innen als Duo. Auch die dezent eingesetzten Percussion stammen
       von den beiden, lediglich die Tanpura, ein indisches Saiteninstrument,
       wurde [2][von der französischen Saxofonistin Muriel Grossmann
       beigesteuert.]
       
       Bzhezhinska und Kofi spielen nicht einfach zusammen, sie treten in einen
       suchenden Dialog, der in der eigenwilligen Formensprache ihrer Musik die
       grundlegenden Fragen menschlicher Existenz ergründet. „Altera Vita“ ist
       spirituell, im positiven Sinne des Wortes.
       
       ## Magischer Drive
       
       Der Auftakt des Albums „Tabula Rasa – Blank State“, wie alle übrigen
       Albumtitel auf Latein und Englisch, ist dem Ur-Zustand der Seele gewidmet.
       Zum Tenorsaxofon von Kofi gesellen sich äußerst dynamische, ihn
       überlagernde positive Klänge von Bzhezhinskas Harfe, auch Percussion
       versprüht magischen Drive. Eine wunderbare Symbiose, die auch auf den
       anderen Songs des Albums spürbar ist: „Tu Vides – You See“, „Tange –
       Touch“, „Audite Me – Hear Me“ und „Anima – Breathe“.
       
       Die meditative Musik appelliert an das Innerste im Menschen, lädt zum
       Innehalten und Spüren ein. „Es geht uns darum, im Hier und Jetzt zu sein“,
       sagt Bzhezhinska der taz. Tony Kofi wuchs als Sohn ghanaischer Immigranten
       mit sechs Brüdern in Nottingham auf. Neben Alt-, Bariton- und Sopransaxofon
       spielt er auch Flöte, komponiert und unterrichtet.
       
       Die aus der Ukraine stammende Alina Bzhezhinska hat einen Ruf als virtuose
       Harfenistin. Sie studierte an der Musikhochschule in Warschau und in den
       USA. Seit 2002 lebt sie in Großbritannien, wo sie etwa im von ihr
       gegründeten HipHarpCollective zeitgenössische Harfenmusik erforscht.
       
       Kofi und Bzhezhinska trafen sich 2016 bei einem Konzert in London. „Ich
       habe buchstäblich seinen Sound vor ihm getroffen“, erzählt die Harfenistin.
       „Es war stockfinster, und ich kam etwas zu spät und konnte nichts sehen.
       Aber dann hörte ich den Klang des Saxofons und verliebte mich.“ Seit dem
       Angriffskrieg Russlands auf ihre Heimat sammelt sie mit ihrer Musik
       regelmäßig Geld, um ukrainischen Kindern Kunsttherapien zu ermöglichen.
       
       ## Den Pionieren des Spirituell Jazz gewidmet
       
       Der Titelsong des Albums „Altera Vita“ markiert den Anfang des gesamten
       Projekts. [3][Er ist dem 2022 verstorbenen, legendären US-Jazzsaxofonisten
       Pharoah Sanders] gewidmet. Kofi und Bzhezhinska begegneten ihm 2017 im
       Londoner Barbican Centre. Dort gestaltete das Duo mit Sanders und anderen
       einen Abend im Gedenken [4][an John und Alice Coltrane]. [5][Letztere
       prägten in den 1960er und 1970er Jahren wie auch Pharoah Sanders den
       „Spiritual Jazz“].
       
       Nach Sanders’ Tod komponierte Tony Kofi „Altera Vita“ – und holte sich
       Unterstützung von Bzhezhinska. „Tony hat immer Melodien im Kopf“, so
       Bzhezhinska. Für die Aufnahme hätten sie kaum geprobt, da sie seit sieben
       Jahren zusammenspielen, alles beruht auf Improvisation.
       
       Was sie zusammen erschaffen, ist in der Tat die gelungene, zeitgemäße
       Fortsetzung des Spiritual-Jazz-Erbes. „Altera Vita“ ist im besten Sinne
       Fusionsound, in einer Zeit von Zersplitterung und Abgrenzung:
       Westafrikanischen, afrobritische und osteuropäischen Akzente, welche die
       beiden in den Jazz tragen, bezaubern.
       
       29 May 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Yelizaveta Landenberger
       
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