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       # taz.de -- Berufsorientierung in Berlin: Fitter für die Ausbildung
       
       > Ein 11. Pflichtschuljahr soll Jugendliche ohne berufliche Perspektive
       > besser Richtung Ausbildung orientieren. Doch hilft da tatsächlich mehr
       > Schule?
       
   IMG Bild: Augen auf bei der Berufswahl – und an der Maschine: Schülerinnen üben das Sägen mit der Kreissäge
       
       BERLIN taz | Schule – und dann? Auf diese Frage haben anscheinend jedes
       Jahr rund 3.000 Berliner Schüler*innen keine Antwort. Sie finden nach
       dem Ende der Schulpflicht – in der Regel nach der 10. Klasse – weder den
       [1][Weg in eine Ausbildung], noch melden sie sich an einer weiterführenden
       Schule an. Aus Sicht des Senats gehen damit pro Jahr rund 10 Prozent der
       rund 30.000 Schüler*innen jeder 10. Jahrgangsstufe einfach „verloren“.
       Denn aus Datenschutzgründen hat die Verwaltung bisher keinen Einblick
       darin, was sie nach dem Ende der Schulpflicht machen.
       
       Mit dem [2][11. Pflichtschuljahr will der Senat diese Gruppe nun gezielt
       auf eine Ausbildung] vorbereiten – und besser im Auge behalten. In der
       Bildungsverwaltung hält man die Jugendlichen für „nicht hinreichend
       orientiert“. Diesen Jugendlichen will der Senat mit einem weiteren Jahr an
       der Schule nun ein Angebot machen. Ziel ist, die Jugendlichen bei dem Weg
       in eine Ausbildung oder beim Übergang in die weiterführenden Schulen der
       Sekundarstufe II zu unterstützen. Doch wie sinnvoll ist es, junge Menschen
       in einem System zu halten, das sie auch vorher offensichtlich nicht
       erreicht hat?
       
       Das Pflichtschuljahr soll am Donnerstag im Bildungsausschuss diskutiert
       werden. Geplant ist, dass die Schüler*innen das zusätzliche Jahr in
       kleinen Klassen von maximal 15 Personen an den Oberstufenzentren (OSZ)
       absolvieren. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat dafür
       bestimmte OSZ als „Ankerschulen“ im Blick, die auch in schwierigen Fällen
       gezielt fördern sollen. Die Senatorin bekommt dafür Zuspruch:
       Politiker*innen anderer Parteien sowie Verbände und Kammern halten das
       zusätzliche Pflichtschuljahr an sich für eine gute Idee. Die [3][Umsetzung
       wirft aber Fragen auf und stößt auch auf Kritik].
       
       Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) etwa begrüßt
       grundsätzlich, dass das 11. Pflichtjahr eingeführt werden soll, fordert
       aber, es sollte „insbesondere zur Förderung der personellen und sozialen
       Kompetenzen sowie zur Orientierung für den eigenen Weg in die Berufswelt
       dienen“. Eine „Fixierung auf die ‚Verwertbarkeit‘ von Schüler*innen für
       eine Ausbildung und den Arbeitsmarkt“ lehnt die GEW ab. Es sollte in dem
       Schuljahr auch keinen klassischen Unterricht mehr geben, sondern „auf
       individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Lernpläne“, fordert die
       Gewerkschaft. Von der Ausgestaltung werde der Erfolg des Pflichtschuljahres
       abhängen.
       
       ## Grüne wollen „Perspektivenjahr“
       
       Dieser Ansicht ist auch Klara Schedlich, Sprecherin für Jugendpolitik und
       berufliche Bildung der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die Grünen
       wollen daher stattdessen [4][ein flexibles „Perspektivenjahr“]: Denn schon
       der Begriff „Pflichtschuljahr“ sei nicht dazu geeignet, bei der Zielgruppe
       Vertrauen hervorzurufen. „Berufliche Orientierung muss zu einer echten
       Kernaufgabe an den Berliner Schulen werden“, fordern die Grünen.
       
       „Mehr vom Gleichen wird diesen Jugendlichen nicht helfen“, kritisiert
       Schedlich. Im Perspektivenjahr, wie sie es sich vorstellt, sollte den
       Jugendlichen dann mit Praktika und Ausbildungsplätzen in den Betrieben ein
       „kreatives und multiprofessionelles Angebot“ gemacht werden. Dabei sollten
       auch Sozialpädagog*innen beraten und unterstützen. Das
       Perspektivenjahr müsse auch Jugendliche mit Behinderungen, mit Förderbedarf
       und aus schwierigen sozialen Verhältnissen erreichen.
       
       Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) begrüßt das 11.
       Pflichtschuljahr. Dort hält man aber für entscheidend, dass das Jahr
       tatsächlich für die Berufsorientierung genutzt werde – und mahnt an, dass
       bereits in den unteren Klassenstufen praxisorientierte Berufsorientierung
       angeboten werden sollte. „Der Großteil des 11. Pflichtschuljahrs muss aus
       fachpraktischen Phasen bestehen, in denen die Schülerinnen und Schüler
       Erfahrungen in Ausbildungsbetrieben sammeln und bestenfalls dort sofort in
       die Ausbildung wechseln können“, fordert die IHK. Die Gefahr bestehe
       sonst, dass Jugendliche einfach in Maßnahmen „geparkt“ würden.
       
       Beim Pilotprojekt „Berliner Ausbildungsmodell“ würden
       Bildungsbegleiter*innen die Jugendlichen betreuen. Dieses Modell
       sollte ausgeweitet werden. Viele berufsvorbereitende Angebote seien
       Schülern und Eltern außerdem nicht bekannt und würden dadurch von ihnen
       nicht genutzt, mahnt die IHK. „Der Bildungsgang Integrierte
       Berufsausbildungsvorbereitung sollte so umgebaut werden, dass auch hier das
       primäre Ziel ist, in die duale Ausbildung einzumünden und nicht einen
       Schulabschluss nachzuholen“, fordert die Kammer.
       
       ## Ausnahmen für geflüchtete und behinderte Schüler*innen
       
       Bislang endet die Schulpflicht nach der 10. Klasse – oder in dem Jahr, in
       dem die Schüler*innen 18 Jahre alt werden. Das stellt unter anderem
       geflüchtete Jugendliche vor Probleme. Sie haben zum Teil größere Lücken in
       ihren Bildungskarrieren. Auch Schüler*innen mit Behinderungen könnten
       durchaus vor Beginn des 11. Pflichtschuljahres volljährig werden. Für beide
       Gruppen müssten Ausnahmeregelungen gefunden werden, fordert die GEW. Die
       Gewerkschaft pocht auch darauf, zusätzlich zu mehr Lehrer*innen auch
       Lernbegleiter*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und
       Sekretär*innen einzustellen.
       
       Das 11. Pflichtschuljahr war in Berlin im Jahr 2004 abgeschafft worden. Die
       Hoffnung war damals, dass Jugendliche nach der allgemeinen Schulpflicht bei
       den Jugendberufsagenturen der 12 Bezirke landen würden. Doch da der Senat
       die weiteren Lebensläufe der Schulabgänger*innen nicht erfasst, ist
       unklar, wie gut diese Jugendlichen dann in anderen Strukturen ankommen. In
       den meisten anderen Bundesländern ist das 11. Pflichtschuljahr Teil der
       Schule. [5][Bildungssenatorin Günther-Wünsch möchte es zum Schuljahr
       2025/26] in Berlin wieder einführen.
       
       12 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Azubis-in-Berlin/!5889058
   DIR [2] /Schulbildung-in-Berlin/!6000401
   DIR [3] /Jugendliche-ohne-Ausbildungsplatz/!5931035
   DIR [4] https://www.parlament-berlin.de/ados/19/BildJugFam/vorgang/bjf19-0244-v.pdf
   DIR [5] /Neues-Schulgesetz-fuer-Berlin/!6004101
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uta Schleiermacher
       
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