URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Fußfessel für Erstwähler
       
       > Die Jugend von heute: Wählt denkfaul und steht als rechtsextremer
       > Verdachtsfall unter Beobachtung des elterlichen Verfassungsschutzes.
       
   IMG Bild: Das nächste Kreuz wird beim Bund gemacht
       
       „Wir haben dem Jungen doch wirklich alles ermöglicht. Und jetzt ist er
       plötzlich zu 16 Prozent rechtsradikal“, empört sich Susanne Klemke.
       Argwöhnisch betrachtet die Stammwählerin der Grünen ihren 16-jährigen Sohn
       Kilian, der bei der Europawahl am vergangenen Sonntag zum ersten Mal sein
       Kreuzchen machen durfte. Doch anders als bisher stimmten Jung- und
       Erstwähler wie Kilian nicht hauptsächlich für progressive Parteien, sondern
       für die Konservativen und sogar für die rechtsradikale AfD.
       
       Seither steht Kilian als rechtsextremer Verdachtsfall unter verschärfter
       Beobachtung seiner Eltern, auch wenn er – wie nicht eben wenige
       Altersgenossen – die paneuropäische Partei Volt gewählt haben will.
       
       Das Haus darf Kilian trotzdem nur noch in Begleitung eines Grundgesetzes
       verlassen, sein rechter Arm ist in einer Schlinge fixiert, um auch die
       körperlichen Reflexe einer rechten Gesinnung zu unterdrücken.
       
       „Ich will einfach wissen, ob der Junge überhaupt noch auf dem Boden der
       freiheitlichen Grundordnung steht“, meint Vater Bodo. Mehrmals täglich
       lässt er seinen Sohn einen Fragebogen ausfüllen, mit dem
       Persönlichkeitsmerkmale eines autoritären Charakters ermittelt werden
       können. Doch schon, dass sich sein Sohn in dieser Sache zur Kooperation
       bereit zeigt, alarmiert den Vater. „Diese unkritische Unterwerfung unter
       Autoritäten ist doch vollkommen faschistoid“, zürnt er, während sein Sohn
       über seelenzergliedernden Fragen brütet.
       
       ## Erstwähler mit Vergangenheit
       
       Auch Kilian, der sich in der Vergangenheit bei Fridays for Future
       engagierte, ist von sich selbst entsetzt. „Ich war wohl auf dem rechten
       Auge blind“, gibt der desillusionierte Erstwähler zu. „Aber die Zahlen
       lügen nicht, laut Statistik bin ich zu einem guten Sechstel Björn Höcke.
       Damit muss ich jetzt leben.“
       
       Deswegen trägt er die Maßnahmen seiner besorgten Eltern mit, die Fußfessel
       trägt er freiwillig. „Damit ich mich nicht auf eigene Faust nach Sachsen
       durchschlage, um mich meinem rechtsradikalen Rudel anzuschließen.“
       
       Auch andernorts ist die Enttäuschung über die verdorbene Jugend groß. „Die
       sollten doch für uns den Karren aus dem Dreck ziehen“, bekennt etwa
       Speditionskaufmann Herrmann aus Hagen, der seinen Nachnamen Felmenhorst
       nicht in der Zeitung lesen will. Zwar habe er selbst aus „Menschenhass,
       Enttäuschung und purer Gemeinheit“ die AfD gewählt, aber er sei halt „ein
       fieser alter Sack“ mit Alkoholproblem, von dem wirklich „nichts anderes zu
       erwarten“ sei. „Aber dass jetzt auch die Jugend die Hoffnung auf eine
       bessere Welt aufgibt, das tut schon verdammt weh“, klagt der Mittfünfziger
       zwischen zwei Schnäpsen.
       
       Schon werden Stimmen laut, die das Wahlmündigkeitsalter wieder heraufsetzen
       wollen. „Nur acht Prozent aller Hochbetagten über 70 Jahren haben für die
       AfD gestimmt“, gibt Joachim Küstner zu bedenken, der für den
       Senioren-Thinktank „Silverback Foundation“ Generationenkonflikte analysiert
       und Bettpfannen leert. Er fordert, Wahlbenachrichtigungen künftig erst mit
       dem Rentenbescheid zu verschicken.
       
       ## Altwähler mit Stammtisch
       
       Sind die Jungen einfach nicht reif genug, um die Weltläufte zu begreifen?
       „Statt sich wie unsereins hochdifferenziert am Stammtisch anzubrüllen,
       informiert sich die Jugend auf diesem Ticktack“, echauffiert sich
       Kommunikationswissenschaftlerin Gesine Prücher-Gröllmann in ihrem
       Best-Ager-Bestseller „Soziale Netzwerke sind vom Teufel“ und erhebt einen
       weiteren Vorwurf: „Eine Generation sollte an ihren Aufgaben wachsen. Mit
       Klimawandel, Krieg und weltweitem Chaos haben die Alten den Jungen mehr als
       genug persönlichkeitsbildende Probleme zur Lösung überlassen. Da erwarten
       die Boomer zu Recht ein wenig mehr Dankbarkeit von den undankbaren kleinen
       Scheißern und keine hirnlose Protestwahl.“
       
       Auch Kilians Eltern zweifeln an der politischen Reife ihres Sohns. „Man
       kann Menschen, die von den eigenen Eltern noch immer jeden Tag zur Schule
       gefahren werden, doch nicht die Geschicke unseres Kontinents anvertrauen“,
       erklärt Susanne Klemke, während sie ihrem Sohn die Klamotten herauslegt.
       „Wir sind übrigens nicht wütend, wir sind einfach nur enttäuscht, Kilian.“
       
       Der reagiert jedoch nicht. Der traumatisierte Teenager telefoniert gerade
       mit seinem Kinderarzt. Kilian erkundigt sich nach Möglichkeiten, sich in
       eine hundertjährige Portugiesin mit Hochschulabschluss geschlechtsumwandeln
       zu lassen. Diese Kohorte hat bei der allseits vergeigten EU-Wahl vermutlich
       noch am wenigsten rechts gewählt. Rein statistisch gesehen.
       
       Und wenn alle Stricke reißen, füllt er den neuen Onlinefragebogen von Boris
       Pistorius aus und geht zur Bundeswehr. „Die Schule der Nation“, wie es in
       einer alten Losung heißt, die der Verteidigungsminister wieder
       hervorgekramt hat. Da kann sich die Jugend austoben. Endlich eine Schule,
       die Spaß macht.
       
       14 Jun 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
       ## TAGS
       
   DIR Jugend
   DIR Wahlen
   DIR Bundeswehr
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Demokratie
   DIR Versicherung
   DIR Jubiläumsjahr
   DIR Kolumne Starke Gefühle
   DIR Sylt
   DIR Maximilian Krah
   DIR Berufspolitiker
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Mückentränke mit Aluhut
       
       Corona ist wieder da! Und damit auch der Verschwörungsliebhaber von
       nebenan. Über den Gartenzaun werden vom Nachbarn die neuesten Theorien
       gereicht.
       
   DIR Die Wahrheit: Pappkameraden fürs Parlament
       
       Händeringend werden nach den Wahlen im Osten Mandatsträger gesucht. Da
       hilft nur die offizielle Entrümplerin.
       
   DIR Die Wahrheit: Assekuranz für Deutschland
       
       In Thüringen sollen verpflichtende Elementarversicherungen künftig nicht
       nur gegen Flutschäden abgeschlossen werden.
       
   DIR Die Wahrheit: Um die klare Ecke gedacht
       
       Die Metaphysik des Kantholzes: Zum 300. Geburtstag alles über den
       Königsberger Heim- und Handwerkergott Immanuel Kant.
       
   DIR „Volt“ bei der Europawahl: Wenn Expatschnösel politisch werden
       
       Es ist seltsam, dass plötzlich alle „Volt“ für eine wählbare Partei halten.
       Nichts könnte falscher sein, als diese Populisten zu unterstützen.
       
   DIR Die Wahrheit: Der Fluch der Sehnsuchtsinsel
       
       Alles über Sylt, über Rechte, Deutsche und andere Problemfälle auf dem
       beliebtesten Urlaubseiland der Reichen und Schönen. Ein dringender
       Notbesuch.
       
   DIR Die Wahrheit: Kätzchen Krah
       
       Der Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl ändert seine Medienstrategie
       und erscheint jetzt nur noch als süßes kleines Tierchen.
       
   DIR Die Wahrheit: Mehr Eskalation wagen
       
       Ab in die Arena: Bei Wahlkampfsportveranstaltungen entdecken demokratische
       Parteien jetzt den gewaltgestützten Dialog.