URI: 
       # taz.de -- Martin Scorsese feiert Filmemacher: Mit dem Enthusiasmus eines Kindes
       
       > Die Doku „Made in England: Die Filme von Powell und Pressburger“ ist eine
       > Liebeserklärung. Martin Scorsese spielt weit mehr als bloß den Erzähler.
       
   IMG Bild: Ein Klassiker von Michael Powell und Emeric Pressburger: „Die schwarze Narzisse“ (1947)
       
       Martin Scorsese ist inzwischen über 80 Jahre alt, seit rund 60 Jahren dreht
       er Filme, und noch länger sieht er Filme, atmet sie, liebt es, über sie
       nachzudenken und zu reden. Gerade letzter Aspekt wurde in den jüngsten
       Jahren immer wichtiger, da [1][Scorsese seine Position als allseits
       verehrter Starregisseur] dazu genutzt hat, mit seiner World Cinema
       Foundation zahlreiche Filme aus aller Welt zu restaurieren und oft zu ihrer
       Wiederentdeckung beizutragen.
       
       Allein das Signet „präsentiert von Martin Scorsese“ kann einem vergessenen
       Film nie gekannte Aufmerksamkeit verleihen, ihn aus dem Wust der
       Filmgeschichte befreien und die Anerkennung geben, die er verdient. Wenn in
       einigen Jahren unweigerlich ausführliche Elogen auf einen der wichtigsten
       Regisseure der Filmgeschichte geschrieben werden, könnte insofern ein
       Aspekt von Scorseses Leben und Arbeit besondere Aufmerksamkeit bekommen:
       Seine Freundschaft mit dem britischen Regisseur Michael Powell, der seine
       Wiederentdeckung zwar nicht nur, aber doch entscheidend Martin Scorsese
       verdankt.
       
       Insofern hat es nicht nur Sinn, es ist geradezu zwingend logisch, dass es
       Martin Scorsese ist, der in David Hintons Dokumentarfilm „Made in England:
       Die Filme von Powell und Pressburger“ als Erzähler fungiert und dass diese
       Dokumentation über eines der großen Regie-Duos der Filmgeschichte also fast
       genauso viel über Martin Scorsese erzählt.
       
       Als Scorsese in den 70er Jahren begann, in den Olymp des Kinos
       aufzusteigen, mit „Hexenkessel“ seinen Durchbruch schaffte, ein paar Jahre
       später für „Taxi Driver“ mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet
       wurde, war Michael Powell fast in Vergessenheit geraten. Die Zusammenarbeit
       mit Emeric Pressburger war vorbei und sein inzwischen als visionär, damals
       aber als abstoßend wahrgenommener [2][Psychothriller „Peeping Tom“ hatte
       Powell zum Paria gemacht, der einsam auf dem englischen Land lebte und Tee
       trank. Bis ihn Scorsese besuchte], sich mit ihm anfreundete und für den
       finalen Akt seines Lebens nach New York holte.
       
       Bevor er ihn persönlich kennenlernte, lernte Scorsese Powells Bilder
       kennen: So oft hat Scorsese von seiner Jugend erzählt, dem Asthma, das ihn
       als Kind ans Bett fesselte und dazu „zwang“, endlos viel Fernsehen zu
       schauen, dass diese Geschichte fast schon den Status einer Legende
       eingenommen hat.
       
       ## Einschneidende filmische Erlebnisse
       
       Schon in seinen eigenen Dokumentarfilmen aus den 90er Jahren „A Personal
       Journey with Martin Scorsese Through American Movies“ und „My Voyage to
       Italy“ hatte Scorsese diese Geschichte erzählt, mit mitreißender
       Begeisterung von einschneidenden filmischen Erlebnissen berichtet, vom
       ersten Kontakt mit dem Medium, das sein Leben prägen sollte. In jenen
       Filmen lag der Fokus auf dem klassischen Hollywood-Kino beziehungsweise dem
       italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit, hier nun ist es das
       britische Kino.
       
       Dies entdeckte Scorsese anfangs nicht über bestimmte Regisseure, sondern
       über Logos von Produktionsfirmen: „London Films“ oder „Ealing Studios“
       hießen diese, doch eine stach heraus: „The Archers“ mit dem markanten Logo
       einer Zielscheibe, in deren Mitte ein Pfeil einschlägt. Und hinter den
       Archers stand, wie Scorsese bald herausfand, das Duo Michael Powell und
       Emeric Pressburger.
       
       Trotz des kleinen Schwarz-Weiß-Fernsehers, auf dem der damals kaum
       zehnjährige Scorsese die Filme von Powell und Pressburger sah: Der Effekt,
       den sie auf den zukünftigen Regisseur hatten, muss enorm gewesen sein. Mit
       spürbarer Begeisterung erzählt Scorsese von seiner ersten Begegnung mit
       „Hoffmanns Geschichten“, einem Opern-Film, der ihm, so Scorsese, alles über
       die Verbindung von Bildern und Musik beibrachte, das er wissen musste.
       
       Und ja, sieht man die Bilder einer Gondel, auf der sich zwei Männer bei
       einem schwerelos wirkenden Schwertkampf duellieren, unterlegt mit der Musik
       von Jacques Offenbach, fällt es leicht, einen Bezug zu den unzähligen
       Scorsese-Filme zu ziehen, in denen Scorsese Bilder mit dem Einsatz von
       Popsongs oder klassischer Musik überhöht.
       
       ## Ihr Ruhm war nicht unumstritten
       
       Doch auch Powell und Pressburger begannen nicht auf diesen filmischen
       Höhen. Ihre ersten Filme waren im kargen Schwarz-Weiß gedreht, erzählten
       kleine, intime Geschichten. Ein ungewöhnliches Duo waren die Beiden:
       Powell, ein aus der Arbeiterklasse stammender Brite, Pressburger ein
       distinguierter Ungar, der nach England migriert war; Powell der in die
       weite Welt strebende Lebemann, ein extrovertierter Regisseur, Pressburger
       ein eher introvertierter Intellektueller, der für die Drehbücher
       verantwortlich war.
       
       Während des Zweiten Weltkriegs begann der Ruhm des Duos, der von Anfang an
       nicht unumstritten war. Denn zu einer Zeit, als die Nation und auch ihr
       Premier Winston Churchill nach oft eher schlichten Propagandafilmen
       verlangten, versuchten Powell und Pressburger differenzierte Filme zu
       drehen, in denen auch deutsche Figuren runde, ambivalente Charaktere waren.
       
       Besonders deutlich wurde dies in ihrem ersten großen Klassiker: „Leben und
       Sterben des Colonel Blimp“, in dem der britische Hang zum Militarismus
       persifliert wurde. Der aber vor allem eine Romanze über einen britischen
       General war, der scheinbar heroische Momente im Off erzählte. Besonders
       eine berühmte Szene stellt Scorsese heraus: Ein britischer Soldat und sein
       österreichischer Rivale bereiten sich auf ein Duell vor, ein Duell, nach
       dem sie zu lebenslangen Freunden werden. Schier endlos dauert die
       Vorbereitung, die Anweisungen der Sekundanten, doch sobald das Duell
       beginnt, fährt die Kamera nach oben und lässt die Duellanten allein.
       
       Ein radikaler, mutiger Moment, wie Scorsese betont, den er selbst viele
       Jahre später in einem seiner eigenen Klassiker zitieren sollte: In „Wie ein
       wilder Stier“ zeigt er Robert De Niro als Boxer Jake LaMotta bei der
       Vorbereitung zum Kampf um die Weltmeisterschaft, beim Einmarsch in den
       Ring, unterlegt mit Klängen aus Mascagnis „Cavalleria rusticana“, doch den
       eigentlichen Kampf sieht man kaum.
       
       ## Meldramen in strahlendem Technicolor
       
       Immer wieder zeigen solche Gegenüberstellungen den direkten Einfluss, den
       die Filme von Powell und Pressburger auf Martin Scorseses eigene Arbeiten
       hatten, was „Made in England“ in den besten Momenten zu einer Lehrstunde im
       Filmemachen werden lässt. Vor allem die in strahlendem Technicolor
       gedrehten Melodramen „Irrtum im Jenseits“, „Schwarze Narzisse“ und „Die
       roten Schuhe“ beschreibt Scorsese mit fast kindlichem Enthusiasmus, der
       inzwischen aber vom Wissen um die eigene Sterblichkeit durchzogen ist.
       
       Im Laufe seines Lebens habe er die Filme von Powell und Pressburger immer
       wieder gesehen, sie seien mit ihm gewachsen, Aspekte, die er als junger
       Mann übersah, berühren ihn nun, da er selbst über 80 Jahre alt ist, tief.
       
       Wie nah ihm vor allem Michael Powell war, lässt sich daran ermessen, dass
       er nicht nur half, Powells Werk aus der Versenkung zu befreien, sondern ihn
       auch mit seiner langjährigen Cutterin Thelma Schoonmaker bekannt machte,
       die bis zu Powells Tod 1990 seine Frau war. Martin Scorseses lebhafte,
       leicht melancholische Erinnerungen an den bewunderten Kollegen, aber vor
       allem Freund Michael Powell verleihen „Made in England“ eine besondere,
       persönliche Note.
       
       Auch ein Grund, warum „Made in England: Die Filme von Powell und
       Pressburger“ das wichtigste Kriterium für einen Dokumentarfilm über das
       Kino erfüllt: Er macht Lust, ganz bald noch einmal oder, wenn man Glück
       hat, zum ersten Mal, die wunderbaren Filme des Duos zu sehen.
       
       18 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Martin-Scorsese-im-Berlinale-Gespraech/!5989400
   DIR [2] /Plattform-fuer-Filmklassiker/!5729990
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Meyns
       
       ## TAGS
       
   DIR Kino
   DIR Filmgeschichte
   DIR Großbritannien
   DIR Martin Scorsese
   DIR Klassiker
   DIR GNS
   DIR taz Plan
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Spielfilm
   DIR Spielfilm
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Filmempfehlungen für Berlin: Der große Aufstieg
       
       Vom Himalaja zu den Alpen oder gleich auf den Mars: Diese Woche geht es in
       die Höhe mit „Black Narcissus“, „Mars Express“ und dem Alpen Film Festival.
       
   DIR Martin Scorsese im Berlinale-Gespräch: Die Schuhe sind bequem
       
       Hollywood-Regie-Star Martin Scorsese bleibt beim Gespräch mit seiner
       britischen Kollegin Joanna Hogg bescheiden. Und schwärmt dann von seinen
       Schuhen.
       
   DIR Martin Scorseses neuer Film: Betrug an Indigenen
       
       Um eine Mordserie an indigenen Menschen dreht sich „Killers of the Flower
       Moon“ von Martin Scorsese. Es ist sein zehnter Film mit Robert De Niro.
       
   DIR Neuer Scorsese-Film „The Irishman“: Der Fremde, der sich Vater nennt
       
       Martin Scorseses Film „The Irishman“ ist eine nuancierte Dekonstruktion von
       Männlichkeit. Sein Hauptdarsteller Robert De Niro wird digital verjüngt.