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       # taz.de -- Buch über Krisenpolitik: Unter Druck
       
       > Ulrich Brand und Markus Wissen werfen einen analytisch scharfen Blick auf
       > eine Klimapolitik, durch die ihnen zufolge auch die Demokratie erodiert.
       
   IMG Bild: Lithiumpumpe in der Atacama-Wüste. Chinesische Unternehmen sichern sich weltweit Vorkommen
       
       Grünes Wirtschaftswachstum ist keine Lösung – im Gegenteil treibt es „zügig
       in den ökologischen Kollaps.“ Das belegen Ulrich Brand und Markus Wissen in
       ihrem neuen Buch „Kapitalismus am Limit“ durch Fakten und klare Analysen.
       Die imperiale Lebensweise des globalen Nordens bleibt auch ohne Kohle und
       Öl darauf angewiesen, soziale und ökologische Folgen auszulagern.
       
       Windräder, E-Autos und Solaranlagen benötigen [1][enorme Mengen Kupfer,
       Lithium und seltene Erden]. Deren Förderung verursacht massive
       Umweltschäden und geht oft mit Menschenrechtsverletzungen einher. Auch
       Boden in anderen Weltgegenden wird beansprucht, um Sonnenstrom für die
       [2][energieintensive Wasserstoffproduktion] einzusammeln.
       
       Wie in kolonialen Zeiten stammen die meisten Ressourcen aus Lateinamerika
       und Afrika. Die zu bekommen wird nicht nur wegen des Konkurrenten China
       immer schwieriger. Die Nutzung der Ozeane als CO-2-Senke oder das Auslagern
       von Umweltzerstörung sprengt inzwischen die planetaren Grenzen. Doch
       Infrastruktur, Gesetze und Alltagspraxis stabilisieren den einmal
       eingeschlagenen Weg.
       
       Spannend ist das Buch vor allem, wo die beiden Autoren einen scharfen Blick
       auf die aktuelle Politik werfen. Statt problemadäquate Lösungen dominieren
       zwei Reaktionen: Grünes Wachstumsversprechen und Rechtspopulismus. Beide
       zielen darauf ab, die imperialen Produktions- und Konsummuster aufrecht zu
       erhalten.
       
       ## Dicke Autos, hoher Fleischkonsum
       
       Green Growth nutzt neue Techniken, die Rechten setzen auf Rassismus und
       Abschottung. Immer dickere Autos, hohen Fleischkonsum oder den Strombedarf
       der Chemieindustrie infrage zu stellen ist tabu, weil das als
       Freiheitsbeschränkung interpretiert wird. Europas Wirtschaft und Konsum
       ging schon immer zu Lasten von Menschen anderswo, gilt aber als Teil des
       demokratischen Systems.
       
       Sowohl die Ampel-Regierung als auch die rechtsradikale Opposition blenden
       ökologische Klassenkonflikte aus, weil die gesamte Gesellschaft davon
       profitiert. In Südspanien produzieren [3][Migrant*innen unter schlimmen
       Bedingungen] billiges Gemüse für Nordeuropa. Dass Menschen ihre Heimat
       wegen des Klimawandels verlassen müssen, ist Anlass für eine Verschärfung
       der Abwehr-Infrastruktur.
       
       In Deutschland ist das Bewusstsein für Klassengegensätze nach dem Ende des
       Fordismus in den 1970er-Jahren verschwunden. Insbesondere die
       sozialdemokratische Regierung Schröder setzte auf Neoliberalismus und
       machte Arbeit zu einem Bereich individueller Verantwortung. Die Spaltung
       zwischen Arm und Reich wächst, Abstiegsängste machen sich breit – und die
       AfD verspricht, die „gute alte Zeit“ wieder herzustellen, was vor allem für
       viele Männer eine attraktive Aussicht ist.
       
       Die Regierung hat dem wenig entgegenzusetzen. Während sie Teile der
       Klimabewegung kriminalisiert, verstößt Verkehrsminister Volker Wissing
       gegen geltendes Recht und weigert sich, ein Klima-Sofortprogramm vorzulegen
       – und der Kanzler gibt ihm Rückendeckung. Das Vertrauen in die Demokratie
       erodiert.
       
       ## Herrschende Sachzwang-Logik
       
       Nötig wäre eine starke linke Bewegung, die sich der Sachzwang-Logik
       verweigert und Eigentumsrechte infrage stellt, so Brand und Wissen.
       Fliegen, Rasen ohne Tempolimit oder die Herstellung von SUV dürften keine
       Option mehr sein. [4][Der Kampf um Lützerath], Solidarische Landwirtschaft
       oder ´Deutsche Wohnen enteignen´ sind Beispiele von Selbstermächtigung, die
       auf eine solidarisch-radikale Demokratie abzielen.
       
       Die Grünen haben bei der letzten Wahl Kraft aus solchen Bewegungen gezogen,
       ihnen aber nichts zurückgegeben. Doch weil sie emanzipatorische Alternative
       jenseits des Kapitalismus aufzeigen, lohnt sich der Kampf, so die beiden
       Professoren. Schließlich zerstört ein weiter-so-wie-bisher sowohl
       Demokratie als auch Lebensgrundlagen.
       
       7 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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