URI: 
       # taz.de -- Historisierung der Hamburger Schule: Crossmediales Debattendelirium
       
       > Deutsch gesungen, unabhängig veröffentlicht: Der Geschichte der Hamburger
       > Schule widmen sich nun ein Buch, eine Compilation und eine
       > TV-Dokumentation.
       
   IMG Bild: Tolle Hamburger-Schule-Band: Die Braut Haut Ins Auge um Bernadette Hengst und Peta Devlin
       
       Für ein Pop-Phänomen ist so was doch eine zweischneidige Sache: In gleich
       drei medialen Aggregatzuständen wird dieser Tage vorläufig fixiert, was das
       war, diese „Hamburger Schule“ genannte Musikszene. Ein Buch und eine
       begleitende Compilation werden heute veröffentlicht. Dazu ist im Hamburger
       Club „Knust“ eine Veranstaltung anberaumt, bei der dann auch eine
       zweiteilige TV-Doku vorgeführt wird, in Auszügen; [1][diese 60 Minuten von
       NDR-Autorin Natascha Geier] sind seit einigen Tagen bereits online zu
       sehen.
       
       [2][Was hohe Wellen schlug auf den Kanälen einiger Beteiligter in den
       sozialen Medien und bei jungen Beobachtern erstaunt zur Kenntnis genommen
       wurde]: Wer kommt zu Wort, wer nicht – und wer durfte vor die Kamera,
       obwohl er*sie doch nun nirgends dabei gewesen war? Erst nochmal rasch
       zurück ins Knust: Dort spielen heute abend etwa Bernadette La Hengst, Knarf
       Rellöm und Nixe.
       
       Also Leute, die definitiv dabei waren, wenn nicht bei der Hamburger Schule,
       dann schon zuvor. Erst aber wird diskutiert: Über die Geschichte der
       Hamburger Schule sprechen Myriam Brüger, einst beim wichtigen Label L’age
       d’or als A&R, Filmemacherin Natascha Geier und Jonas Engelmann, der das
       recherchestarke Buch als Herausgeber verantwortet.
       
       ## Musik und Diskurs
       
       Musik und Diskurs also. Ob eines davon näher liegt als das andere? Es gibt
       Popszenen und Hypes, bei denen das eindeutiger zu beantworten wäre. Dass ab
       Ende der 1980er viel geredet wurde, an den Hamburger Tresen, in den
       Proberäumen: Darüber herrscht Einigkeit bei allen, die dazu befragt wurden.
       
       Ob das, was da beredet wurde und von wem, am Ende konstitutiver war als die
       Musik? Schon die drei Bands, die ab Mitte 1990er im deutschsprachigen Raum
       meist unter „Hamburger Schule“ firmierten, Blumfeld, Tocotronic und [3][Die
       Sterne], machen ja klar: Den einen Sound aus Hamburg gab es nicht, darin
       unterschied sich diese lokale Szene von anderen: [4][„Wir sind hier nicht
       in Seattle, Dirk“].
       
       War es dann also dieser besonders intensive Umgang mit Songtexten, schon
       dessen mitunter immens scheinende Menge, [5][aber auch Verdichtung, der die
       Hamburger Musiker, sehr viel seltener auch -innen], dann doch wieder
       verwandt erscheinen ließ? Auf die Sache mit der Sprache können sich die
       dabei Gewesenen bis heute einigen: In den ausgehenden 80er Jahren war es
       schwieriger als heute, auf Deutsch zu singen. Kontaminiert war es, von
       Nazi-Vergangenheit, Schlagerhaftem, auch den falsch authentisch rockenden
       Weisen der Westernhagens; und durchaus nicht zuletzt: Deutschpunk mit
       seinen erstarrten Formen.
       
       ## Bewegung bis in Kunst und Literatur
       
       „Was man heute Hamburger Schule nennt, war viel mehr als Musik“, erklärt
       Geier in der Doku. „Eine Bewegung“ sei in den frühen 1990ern entstanden,
       „hier auf St. Pauli“; eine, „aus der auch neue Kunst und Literatur
       hervorgingen“. Von 1989 bis 2000 war die Schule geöffnet: Kaum
       unumstößlich, stehen diese Jahreszahlen auf dem Cover der neuen, das Buch
       begleitenden Compilation. [6][1989 erschien das Debütalbum von Kolossale
       Jugend um Sänger und Gitarrist (später auch taz-Autor) Kristof Schreuf].
       
       Sein Titel, „Heile Heile Boches“, bringt am Vorabend der Wiedervereinigung
       ein nach vorne schauendes Nachkriegskarnevalslied („Heile heile Gänsje“)
       zusammen mit dem nicht gerne Erinnerten: „Boches“, das waren im Zweiten
       Weltkrieg die deutschen Besatzer in der Sprache der militärisch
       erniedrigten Französ:innen. [7][Zusammen mit
       Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs wurden Kolossale Jugend als die ersten
       deutschsingenden Indiebands jener Hamburger Szene wahrgenommen].
       
       Mit dem '89er-Stück „Party“ von Kolossale Jugend liefert die Compilation
       auch ein gutes Beispiel dafür, was eine Weile zum Hamburger
       Alleinstellungsmerkmal wurde: Drahtiges, auch enorm (im guten Sinne)
       nerviges Postpunkrumpeln, benannt hatte die Band sich in Anspielung auf ein
       Album der britischen Young Marble Giants. [8][Vor allem scheint Schreuf der
       nur unter Schmerzen als Mutter- zu betrachtenden deutschen Sprache als
       Sänger mit dem Einsatz von Schneidwerkzeugen beizukommen:] Sie fliege
       „kaputtfragmentiert aus dem Fenster“, schreibt nun Benjamin Moldenhauer
       über „Heile Heile Boches“ im Buch.
       
       ## Fremdeln mit dem Deutschen
       
       Unterschiedliche Grade des Fremdelns, des Wiederaneignenmüssens beschreiben
       auch andere Songtexter:Innen. Mit [9][„Der Text ist meine Party“] hat der
       2022 verstorbene Schreuf eine Zeile für die Ewigkeit hinterlassen – Buch
       und Compilation sind nun damit betitelt. Letztere Zusammenstellung leistet
       gute Dienste, wenn sie neben „Party“ und Musik der naheliegenden Drei
       (Blumfeld, Tocotronic, Die Sterne) auch einige dem Vergessen nahe
       Schulkameraden stellt: We Smile, Ja König Ja, Die Regierung und Fünf
       Freunde (Vorläufer von Superpunk).
       
       Mit [10][„Die Bürger von Hoyerswerda und anderswo“ von Die Goldenen
       Zitronen], Easy Business und Eric „IQ“ Gray wird zudem angedeutet, dass mit
       der Hamburger Schule auch den später eine Weile lang gut laufenden Hiphop
       etwas verbindet. In seinem expliziten Ansprechen zeitgenössischer
       rassistischer Zustände liefert der Track gleich für noch etwas den Beleg.
       
       Den politischen Anspruch, mit dem sich die Hamburger Schule umgab. Da wurde
       indes oft „politisch“ gesagt (und das wird es nun auch in Doku und Buch)
       und gemeint war eine bestimmte linke Politik, gerichtet gegen die damaligen
       nationalistischen Aufwallungen, die sich ganz konkret zeigten: Es wurden
       [11][von Nazis plötzlich Häuser mit Migranten drin angezündet].
       
       ## Ist doch keine Standortfrage
       
       Freilich: Kein bisschen weniger „politisch“ ist ja ein nun auch enthaltenes
       Stück wie [12][Bernd Begemanns „Hitler – menschlich gesehen“]. Und dass bei
       allem nicht-nationalistischen Anspruch Akteur:innen der Hamburger Schule
       schlicht nicht abschließend darüber entscheiden konnten, ob sie nun den
       elenden Popstandort Deutschland aufhübschen oder nicht: Das verdient
       nochmal eine gesonderte Betrachtung.
       
       Nah beieinander lagen in der Hamburger Schule das Politische und das
       Private: Für Parolen war man sich zu schade, aber wie da einer über ein
       Kopfkissen textete (oder ein anderer über Heizkörper), das war mindestens
       neu, und also fortschrittlich. Wie persönlich nun die Chronist:innen an
       die Sache herangehen, das fällt auf: TV-Autorin Natascha Geier teilt mit,
       wie sie verbandelt gewesen war. Auch Engelmann stellt im Buch erst mal
       seine eigene Sprecherposition klar. Sein Blick aus der süddeutschen Ferne
       ist typisch: Die wenigsten auf dieser Schule hatten in Hörweite des
       Hamburger Hafens das Licht der Welt erblickt.
       
       Die Rolle als Sehnsuchtsort in Ostfriesland oder Ostwestfalen verlor
       Hamburg Ende der 1990er an Berlin. An Saalschlachten um Deutschquoten im
       Radio kann man sich nun also erinnern lassen. Auch an die Affäre um
       Tocotronic und den von ihnen als zu nationalistisch empfundenen
       Nachwuchspreis. Kein Dokumentarfilm, kein einzelnes Buch kann die
       Geschichte der Hamburger Schule vollständig abbilden; manches Fehlende
       werden andere hoffentlich nachreichen. Und darin ist diese Musikszene
       wiederum gar nicht so speziell.
       
       6 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ardmediathek.de/serie/die-hamburger-schule-musikszene-zwischen-pop-und-politik/staffel-1/Y3JpZDovL25kci5kZS81MDA1/1
   DIR [2] https://blogs.taz.de/popblog/2024/06/03/hamburger-schule-gate-eine-oral-history-in-7-kapiteln/
   DIR [3] /Frank-Spilker-ueber-seine-Band-Die-Sterne/!5884168
   DIR [4] https://youtu.be/K_vTK56jYt8?si=rNjHma5rMcu_1h7m
   DIR [5] /Frauen-in-der-Hamburger-Schule/!5104108
   DIR [6] /Nachruf-auf-Musiker-Kristof-Schreuf/!5894264
   DIR [7] /Ostzonensuppenwuerfelmachenkrebs-zurueck/!5971853
   DIR [8] /Einjaehriger-Todestag-von-Kristof-Schreuf/!5968749
   DIR [9] https://youtu.be/nJpLUKf-xh0?si=soZDpgRNz7e5fbAY
   DIR [10] https://youtu.be/OXwzyqCzKxU?si=_Cj7rc4ohAUPc7df
   DIR [11] /30-Jahre-nach-Brandanschlag-in-Moelln/!5893471
   DIR [12] https://www.youtube.com/watch?v=zU9OanZvhvY
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Diehl
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop
   DIR Hamburg
   DIR Musik
   DIR Gentrifizierung
   DIR Pop-Literatur
   DIR NDR
   DIR Social-Auswahl
   DIR Hamburg
   DIR Hamburg
   DIR Hamburger Schule
   DIR wochentaz
   DIR Hannover
   DIR St. Pauli
   DIR VfL Bochum
   DIR Hamburger Schule
   DIR Musik
   DIR Die Sterne
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abschied von Musikmanager Hilsberg: Er begeisterte für Neues
       
       Im Hamburger „Westwerk“ wurde feierlich Abschied genommen von
       Underground-Legende Alfred Hilsberg. Es gab Schafsköttel, Popper-Knigge und
       Visionen.
       
   DIR Fidel Bastro Records: Eigensinn in extremo
       
       Das Hamburger DiY-Label Fidel Bastro ist eine Bastion für musikalische
       Randgruppen von Noise bis Industrial. Eine Würdigung zur 100.
       Veröffentlichung.
       
   DIR Bernadette La Hengst über ihr Songbook: „Irgendwann merkt man, ob das Baby geboren werden will“
       
       Mit ihrem Liederbuch „Warum ich so laut singen kann“ ist Bernadette La
       Hengst auf Tour. Das soll auch die Geschichte ihrer Generation erzählen.
       
   DIR Tocotronics neues Album „Golden Years“: Vom Versuch, sich Mut zuzureden
       
       Bye-bye Berlin: Tocotronic bleiben auf ihrem neuen Album „The Golden Years“
       melancholisch.
       
   DIR Neuer Krimi von Jakob Nolte: Was macht ein Zugvogel in Hannover?
       
       In Jakob Noltes Krimi „Die Frau mit den vier Armen“ wird nach Playlist
       gemordet. Solche Post-Netflix-Literatur stünde auch TV-Tatorten gut zu
       Gesicht.
       
   DIR Historisierung der Hamburger Schule: Zurück an St. Paulis Tresen der 90er
       
       Im ausverkauften Hamburger Club Knust wurde über ein Buch und eine TV-Doku
       zur Hamburger Schule diskutiert – und auch ein bisschen gefeiert.
       
   DIR Grönemeyer, eine Schule, eine Stadt: Herbert, Bochum und ich
       
       Herbert Grönemeyer feiert das 40-jährige Jubiläum seines Albums „4630
       Bochum“. Unser Autor hätte als Schüler fast dazu getanzt. Doch es kam
       anders.
       
   DIR Hamburger Schule: Kein Schnee von gestern
       
       Ein Buch, ein Album und sogar ein Dokfilm widmen sich der Hamburger Schule
       aus den 1990ern. Diese Historisierung ist nicht altbacken, sondern wichtig.
       
   DIR Nachruf auf Musiker Kristof Schreuf: Der Text war seine Party
       
       Der Musiker und taz-Autor Kristof Schreuf ist gestorben. Seine Band
       Kolossale Jugend schrieb deutsche Popgeschichte. Er wurde nur 59 Jahre alt.
       
   DIR Romandebüt von Frank Spilker: „Ohne Selbstsicherheit geht nichts“
       
       Der „Sterne“-Sänger Frank Spilker über sein Romandebüt: „Es interessiert
       mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen“ – und die Zukunft der
       Musikindustrie.
       
   DIR Frauen in der Hamburger Schule: Unbegradigte Aussagen
       
       "So wild und frei": Ein Interviewband lässt Frauen zu Wort kommen, die die
       Hamburger Subkulturszene der neunziger Jahre mitgeprägt haben.