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       # taz.de -- Kriegsgegner in Russland: Widerstand aus Menschlichkeit
       
       > In Russland ist ein 17-Jähriger zu sechs Jahren Straflager verurteilt
       > worden. Er hatte Molotowcocktails auf zwei Militärrekrutierungszentren
       > geworfen.
       
   IMG Bild: Yegor Balazeikin und seine Mutter im November 2023 bei einer Gerichtsverhandlung in Sankt Petersburg
       
       Bis vor Kurzem wäre es für Tatiana Balazeikina undenkbar gewesen,
       öffentlich über Politik zu sprechen, geschweige denn über den [1][Krieg in
       der Ukraine]. „Wir dachten lange, Politik ist nichts für uns“, sagt die
       45-jährige Russin, die mit ihrer Familie in Otradnoye nahe St. Petersburg
       wohnt. „Wir hatten andere Dinge im Kopf: unser Haus, unsere Arbeit, unsere
       Familie. Ich glaube, vielen Menschen in Russland geht es so.“
       
       Es war ihr Sohn Yegor, der Zweifel an dem russischen Regime in ihr Haus
       trug. Nachdem sein Onkel an der Front in der Ukraine gestorben war, begann
       Yegor sich über den Krieg und die russische Propaganda bei unabhängigen
       Medien wie Meduza zu informieren. „Mein Sohn sagte zu uns, es sei nicht
       mehr die Zeit, sich herauszuhalten und keine politische Meinung zu haben.“
       Yegor wurde zum überzeugten Kriegsgegner.
       
       Tatiana Balazeikina sitzt an einem Morgen im April in ihrem Haus in
       Otradnoye vor dem Laptop, hinter ihr steht ein Ikea-Regal voller Hefte und
       Unterlagen. Sie trägt kurzes, graues Haar, eine ovale Hornbrille.
       Balazeikina spricht fließend Englisch, sie unterrichtet die Sprache in
       Russland.
       
       Ihr Sohn Yegor ist inzwischen nicht mehr bei ihr. Er ist im Februar 2023
       verhaftet worden, gerade einmal 16 Jahre alt war er da. Yegor hat damals in
       zwei Nächten selbst gebaute Molotowcocktails auf
       Militärrekrutierungszentren in Kirowsk und St. Petersburg geworfen.
       
       Beim zweiten Mal, am 28. Februar 2023, erwischte ihn die Polizei. Im
       Gebäude des Militärs hielt sich zum Zeitpunkt des Anschlags niemand auf,
       nur ein Sicherheitsmann befand sich außerhalb des Zentrums. Balazeikin
       erklärte, er habe bis 22 Uhr gewartet, um sicherzustellen, dass keine
       Personen zu Schaden kommen.
       
       Die Attacke scheiterte ohnehin, sein Brandsatz erzeugte nur einige
       Stichflammen. Bei beiden Anschlägen kamen weder Gebäude noch Personen zu
       Schaden.
       
       ## „Ich habe kein faires Verfahren erwartet“
       
       Yegor Balazeikin ist im November zu sechs Jahren Haft verurteilt worden,
       [2][er sitzt nun in einer Strafkolonie ein]. Mit nunmehr 17 Jahren zählt er
       zu den jüngsten politischen Gefangenen in Russland. Seit Mitte Mai führt
       ihn Russland zudem auf der Liste der Terroristen und Extremisten. „Er
       verliert damit grundlegende Bürgerrechte und wird auch dann noch Probleme
       bekommen, wenn er einmal freigelassen wird“, sagt seine Mutter.
       
       Laut Amnesty International werden Personen auf der Liste
       Finanzdienstleistungen und Sozialhilfe verwehrt, ohne dass ein
       Gerichtsbeschluss nötig ist. Ende Dezember 2023 umfasste die „Liste der
       Terroristen und Extremisten“ des russischen Finanzüberwachungsdiensts laut
       Amnesty 13.647 Personen, von denen 11.286 als „Terroristen“ bezeichnet
       wurden. 13 Prozent davon waren Frauen, 106 Personen unter 18 Jahre alt.
       
       Insgesamt sind Militärrekrutierungszentren in Russland seit Beginn des
       russischen Angriffskrieges schon über zweihundert Mal Ziel von versuchten
       Brandanschlägen gewesen. Mehr als 40 Tatverdächtige wurden wie Yegor wegen
       Terrorismus beschuldigt.
       
       In zweiter Instanz ist das Urteil gegen Yegor Anfang April bestätigt
       worden, doch Tatiana Balazeikina kämpft weiter. „Wir gehen nun in die
       nächsthöhere Instanz.“ Yegor wird dabei von der Anwältin Darya Koltsova
       vertreten. Balazeikina kann ihren Sohn zweimal im Monat besuchen, sie
       können mehrmals in der Woche telefonieren, sich Briefe schreiben.
       
       Die taz hat – über seine Mutter – auch einige Fragen an Yegor gerichtet. In
       seinen Antworten wirkt er sehr abgeklärt und entschlossen: „Ich wollte mit
       meinen Aktionen kein Zeichen setzen, ich habe es nur für mich selbst getan.
       Ich wollte menschlich bleiben, ich will weiter in den Spiegel blicken
       können und nicht zu denen gehören, die den Krieg unterstützen.“ Das harte
       Urteil überrasche ihn nicht, „[3][ich habe kein faires Verfahren
       erwartet].“ Zu konkreten politischen Fragen will er sich jetzt nicht mehr
       äußern, das sei in seiner aktuellen Situation zu gefährlich.
       
       ## Vor dem Krieg eine unpolitische Familie
       
       Yegor ist ein außergewöhnlicher Jugendlicher. Er interessierte sich früh
       für Geisteswissenschaften, insbesondere für Geschichte und
       Sozialwissenschaften. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung besucht er eine
       Schule, die ihn auf ein Studium vorbereiten sollte. In seiner Freizeit war
       Karate seine Lieblingsbeschäftigung, er hat in dieser Sportart zahlreiche
       Pokale nach Hause gebracht.
       
       Seit der Kindheit leidet Yegor unter Autoimmunhepatitis, bei dieser
       Krankheit greift das Immunsystem die eigenen Leberzellen an. Im Gefängnis
       bekommt er laut seiner Mutter nur die medizinische Grundversorgung, aber
       nicht die nötigen Zusatzuntersuchungen, um den Verlauf der Krankheit zu
       überwachen.
       
       Mitte Juni konnte Yegor in einem Krankenhaus untersucht werden. „Seine
       Werte waren nicht gut, seine Krankheit schreitet voran“, sagt seine Mutter.
       Wichtige Gerichtsunterlagen, die Yegor zugestellt werden sollten, seien auf
       dem Postweg verschollen. Dies wirke sich auch auf ihr Besuchsrecht aus –
       vorerst dürften sie ihn nun [4][nicht mehr besuchen], sagt sie.
       
       Weder Yegor noch seine Familie waren vor dem Angriffskrieg gegen die
       Ukraine politisch bewandert, sie zählten sogar noch bis zum Tod des Onkels
       eher zu den Putin-Unterstützer:innen. „Es ist unsere Schuld, dass wir uns
       nicht wirklich für Politik interessiert haben“, sagt Tatiana Balazeikina.
       „Wir wussten nur, dass es einen Krieg zwischen unserem Land und unserem
       Nachbarland gab. Das war alles. Wir wussten auch nichts von den
       Repressionen in Russland.“ Balazeikina hat sich inzwischen mit anderen
       betroffenen Familien von politischen Gefangenen vernetzt. Auch ihr Leben
       hat sich seit der Verhaftung ihres Sohns grundlegend gewandelt.
       
       ## „Mach mit mir, was du willst, ich werde meine Meinung nicht ändern“
       
       Nach Yegors Verhaftung sagten ihm die Polizisten, er solle bei den
       Ermittlungen nicht über den Krieg sprechen – so könne er freigesprochen
       werden. Yegor blieb bei seiner Meinung. Beamte des russischen
       Geheimdienstes FSB drohten ihm überdies, er würde in der
       Untersuchungshaftanstalt vergewaltigt und in eine psychiatrische Klinik
       gebracht werden.
       
       Doch Yegor sagte: „Mach mit mir, was du willst, ich werde meine Meinung
       nicht ändern.“ So erzählen es zumindest seine Unterstützer:innen auf
       einem Telegram-Kanal. Gegenüber den Staatsanwälten gab er zum Tatmotiv zu
       Protokoll: „Ich bin mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht
       einverstanden. Deshalb begann ich, mit Menschen in meiner Umgebung zu
       sprechen, um Informationen über das Büro für die Registrierung und
       Einberufung zum Militär zu sammeln. Ich erkannte, dass die Gespräche
       nutzlos waren, und beschloss, dass etwas getan werden musste, um die
       Situation zu ändern.“
       
       Auch wenn Balazeikina sich kämpferisch gibt, weiß sie, wie es
       Kriegsgegner:innen in ihrem Land derzeit ergeht. „Es gibt keine
       Menschenrechtsorganisation, die in Russland zugelassen ist und sich um
       diese Fälle kümmern kann“, sagt sie und spielt vor allem auf das [5][Verbot
       der NGO Memorial Ende 2021] an.
       
       So ist es vor allem ein Satz, der ihre Situation umfassend beschreibt: „Wir
       warten auf die besseren Tage.“ [6][Mutige Menschen wie ihr Sohn] könnten
       dazu beitragen, dass diese Hoffnung etwas realistischer wird.
       
       22 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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