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       # taz.de -- Autor*in über Mutter-Kind-Roman: „Ein Spannungszustand“
       
       > Luca Mael Milsch erzählt in „Sieben Sekunden Luft“ von einer engen
       > Mutter-Kind-Beziehung und den Konsequenzen für den Lebensweg des queeren
       > Kindes.
       
   IMG Bild: Dabei bis zum Lebensende: Hauptfigur Selah arbeitet trotz künstlerischer Begabung in der Pflege
       
       taz: Luca Mael Milsch, wir begegnen der Hauptfigur Selah am Anfang Ihres
       Romans als sie am Ende ihrer Auszeit von der Arbeit ist … 
       
       Luca Mael Milsch: Die einzelnen Kapitel und deren Zeitstränge sind immer zu
       Kipppunkten im Leben der Figur geschrieben. Der Roman beginnt nicht dort,
       wo noch alles offen ist, zu Beginn von Selahs Auszeit von der Arbeit bei
       einem ambulanten Palliativdienst, sondern am Ende. Der Figur ist da
       eigentlich schon klar, dass sich, zumindest in dieser Lebensphase, nicht
       mehr so viel verändern wird.
       
       Ist die Palliativstation auch symbolisch? 
       
       Ja, das Pflegen ebenfalls. Die Figur wächst mit einer alleinerziehenden
       Mutter auf. Selah lernt früh, sich um die Belange der Mutter zu kümmern. Im
       Erwachsenenalter spiegelt sich das in der Jobwahl wider. Später liegt die
       Mutter im Sterben – und Selah findet sich auf andere Art in der
       Palliativpflege wieder, nämlich im Hospiz.
       
       Wieso haben Sie für den Roman unterschiedliche Erzählperspektiven gewählt? 
       
       Ich erzähle die Geschichte einer queeren Figur. Deren Lebenslauf entspricht
       nicht den klassischen gesellschaftlichen Erwartungen. Das sollte sich auch
       in der Erzählweise wiederfinden. In den Stimmen wollte ich die Komplexität
       der Figur spiegeln. Die Ich-Figur als Kind ist sehr nah an sich dran. Wir
       können die Glaubenssätze der Mutter, die auch den Glaubenssätzen der
       Gesellschaft entsprechen, noch sehr klar hören. Je älter sie wird, desto
       weiter entfernt sich die Erzählperspektive vom innersten Kern der Figur,
       bis zu einer sehr großen Distanz, die in der Geschichte im Jahr 2017
       erreicht ist. Es gibt ein großes Spannungsverhältnis zwischen Eigen- und
       Fremdwahrnehmung. Diese einzelnen, ambivalenten Stimmen trägt die Figur ein
       Leben lang in sich. Sie werden in der zeitlich letzten Erzählinstanz im
       Jahr 2023 wie bei einer Art Versöhnung zusammengeführt.
       
       Wie haben Sie die Hauptfigur gefunden? 
       
       In der Geschichte geht es um den Wunsch nach einem Milieuwechsel innerhalb
       der Familie. Dabei porträtiere ich auch die Kleinstfamilie; die sehr enge
       Mutter-Kind-Beziehung, der fehlende Vater, die Verantwortung, die dadurch
       auf der Mutter lastet. Als Kinder sind wir immer auch Verlängerung der
       Leben der eigenen [1][Eltern]. Ich wollte gerne eine künstlerisch-begabte
       Figur angucken der, auch deshalb, ihr Lebensweg verunmöglicht wird.
       
       Was hat sie inspiriert? 
       
       Beobachtungen und Gespräche mit Menschen; das Erkennen, dass sie stark von
       Projektionen, Hoffnungen der Elternteile und [2][Gesellschaft] beeinflusst
       aufwachsen. In vielen, vor allem queeren Menschen kann dadurch ein
       Spannungszustand entstehen. Der Frage, inwieweit es möglich ist, sich aus
       diesem zu lösen, auch abseits von Schmerzen durch gesellschaftliche
       Zuschreibungen, gehe ich schreibend nach.
       
       Und die Politik? 
       
       Die Art und Weise, wie politisiert das Elternhaus ist, prägt auch die
       Kindergeneration. Die Mutter in dem Roman versteht sich eher als
       unpolitisch. Sie ist eine Figur, der das Leben so ein bisschen passiert
       ist. Mich hat interessiert, wie stark kapitalistische, aber auch
       patriarchale Strukturen in diesen kleinen Raum hineinwirken, der von sich
       selbst behaupten würde, dass er unpolitisch ist. Selah macht einen
       politischen Bewusstwerdungsprozess durch. Die Figur erkennt sich selbst und
       auch die Mutter als Körper in einem System, das beide zugerichtet hat.
       
       Wie verlief der Schreibprozess? 
       
       Die Brüche im Leben von Selah finden sich auch in der Erzählweise. Der
       [3][Roman] ist wortwörtlich eine Collage: Zuerst habe ich sehr lange an den
       einzelnen Erzählungen, Zeitsträngen und deren Perspektiven gearbeitet, weil
       sie das Wesen der Figur zu dieser Zeit stark spiegeln. Dann habe ich ihn
       ausgedruckt, auseinandergeschnitten und arrangiert.
       
       24 Jun 2024
       
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