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       # taz.de -- Ehepaar Klarsfeld über Frankreich: „Ich kann nicht für die anderen kämpfen“
       
       > Das „Nazi-Jäger“-Ehepaar Klarsfeld stellt sich im französischen Wahlkampf
       > hinter Marine Le Pen. Die linken Kräfte halten sie für antisemitisch.
       
   IMG Bild: Ikone des Antifaschismus: Beate Klarsfeld mit Mann Serge (M) und Sohn bei einem Besuch in Berlin im Mai 2024
       
       taz: Beate und Serge Klarsfeld, Sie haben Ihr Leben lang Nazis verfolgt und
       vor Gericht gebracht. Seit einigen Monaten sprechen Sie sich, Herr
       Klarsfeld, öffentlich für Marine Le Pen und ihre rechtsextreme Partei
       Rassemblement National (RN) aus. Warum? 
       
       Serge Klarsfeld (SK): Präsident Macron hat die Franzosen in eine schwierige
       Situation gebracht. Im zweiten Wahlgang wird es nur noch zwei Blöcke geben.
       Eine Linke, die anti-israelisch eingestellt ist, mit antisemitischem
       Beigeschmack. Und auf der anderen Seite eine Partei, die früher
       antisemitisch war und es jetzt nicht mehr ist. Manche bezweifeln, dass der
       Wandel ehrlich ist – ich nicht.
       
       Der RN-Vorsitzende Jordan Bardella hat 2023 gesagt, dass Parteigründer
       Jean-Marie Le Pen, der die NS-Gaskammern als „Detail der Geschichte“
       bezeichnete, kein Antisemit sei.
       
       SK: Naja, Bardella ist 28 Jahre alt. Seine Aussage war eine unüberlegte
       Reaktion, würde ich sagen. Chef der Partei ist immer noch Marine Le Pen,
       nicht Bardella.
       
       Bardella könnte in Kürze französischer Premierminister werden. 
       
       Beate Klarsfeld (BK): Das war eine Dummheit. Marine Le Pen hätte ihn dafür
       verurteilen sollen. Ich weiß es nicht. Fragen Sie Marine Le Pen, warum sie
       ihn nicht verurteilt hat.
       
       Ich frage aber Sie, weil Ihr ganzes Lebenswerk daraus besteht, Nazis und
       Antisemiten zu verfolgen. 
       
       BK: Wir hoffen natürlich, dass der RN keine Mehrheit im Parlament bekommt,
       sondern Macron.
       
       SK: [1][Bardella ist nach dieser Aussage zurückgerudert]. Das sind keine
       Worte, die sein wahrhaftiges Denken widerspiegeln. Außerdem ist Bardella
       nicht derjenige, der diese Partei in den Wandel geführt hat.
       
       Reden wir also über Marine Le Pen. Sie stand etlichen Rechtsextremen lange
       sehr nahe und war mit dem verurteilten [2][Holocaustleugner Alain Soral
       befreundet]. 
       
       BK: Sie selbst hat sich von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen distanziert. Und
       von vielen anderen Dingen auch. Sie hat die Vel d’Hiv [die Massenverhaftung
       und Deportation Tausender Juden 1942 durch die Nazis und französische
       Kollaborateure, Anm. d. Red.] anerkannt und die Gayssot-Gesetze akzeptiert
       [[3][Antidiskriminierungsgesetze] von 1990, Anm. d. Red.].
       
       2017 sagte Le Pen, Frankreich sei für die [4][Vel d’hiv] nicht
       verantwortlich und leugnete somit die französische Kollaboration. 2022
       sagte sie, dass ihre Partei seit der Gründung 1972 „die Flamme der Nation
       am Brennen gehalten hat“. Das klingt nicht so, als hätte sie mit der
       Vergangenheit ihrer von ehemaligen Waffen-SS-Männern gegründeten Partei
       gebrochen.
       
       SK: Ich zweifle nicht an der Ehrlichkeit von Marine Le Pen. Mir ist nur
       bekannt, dass sie die Vel d’Hiv scharf verurteilt hat. Sie hat die Ansagen
       gemacht, die es brauchte. Ich habe kein Problem mehr mit ihr. Sie
       unterstützt Israel und den Kampf gegen Antisemitismus. Es gab kein einziges
       rechtsextremes Attentat gegen Juden, aber aus der radikal islamistischen
       Ecke gab es das sehr wohl. Die radikale Linke ist anti-israelisch geworden
       und in Teilen antisemitisch. Wenn sich die zwei Parteien gegenüber stehen,
       werde ich nicht zögern.
       
       Moment: 2023 wurden in Frankreich in mehreren Fällen [5][Rechtsextreme für
       geplante Anschläge gegen Juden] zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
       Zudem muss sich doch aus der Zurückweisung der radikalen Linken keine
       Unterstützung der Rechtsextremen ergeben. 
       
       SK: Unser Sohn Arno hat ein paar Zehntel von seinem Auge verloren, als er
       mit 35 Jahren auf das Podium von Jean-Marie Le Pen sprang. Wenn wir das
       jetzt so machen, dann eben nur, weil wir wirklich an positive Änderungen
       glauben. Die positive Änderung im Kampf gegen Antisemitismus besteht
       darin, dass die rechtsextremen Parteien philosemitisch geworden sind. Das
       ist eine große Errungenschaft, die einzige.
       
       Es ist schwer fassbar, das von Ihnen zu hören. Hinter Ihnen, Frau
       Klarsfeld, hängt eingerahmt der Zeitungsartikel, in dem von Ihrer Ohrfeige
       1968 gegen den deutschen Bundeskanzler Georg Kiesinger für seine
       NSDAP-Vergangenheit berichtet wird. Auch der hat nach außenhin ein
       rechtschaffenes Bild abgegeben. Solche Leute haben Sie entlarvt.
       
       SK: Wir sind keine Politiker oder Politikerinnen, wir waren noch nie in
       einer Partei. Unsere Priorität ist das Schicksal der Juden, mehr nicht.
       
       BK: Viele Jahre lang haben wir Anzeigen in den Zeitungen geschaltet:
       Figaro, Libération – gegen den RN, für Macron. Wir haben Macron von Anfang
       an unterstützt. Und wir werden ihn wieder wählen. Aber es ist doch gut,
       wenn eine Partei sich ändert.
       
       Die AfD ist zum Beispiel nicht bereit dazu. Alexander Gauland
       [Ex-AfD-Fraktionschef, Anm. d. Red.] und Björn Höcke [rechtsextremer Chef
       der Thüringer AfD-Fraktion, Anm. d. Red.] sind maximal antisemitisch. Sie
       haben gesagt, das Holocaust-Mahnmal sei eine Schande. Und sie hassen
       Israel.
       
       Reicht es denn, dass eine Partei „philosemitisch“ ist, wie Sie sagen, wenn
       sie gleichzeitig den Hass auf andere Minderheiten schürt und verbreitet? 
       
       BK: Der RN bekämpft den Islamismus, und das ist für Juden wichtig.
       
       Was der RN bekämpft, ist die Gesamtheit aller Einwanderer. 
       
       SK: Die Muslime haben keine Partei ergriffen. Wir haben sie nicht auf der
       Straße gesehen, wir haben sie in Paris nicht gegen die Hamas demonstrieren
       sehen.
       
       Ob Muslime unter den 100.000 Demonstrierenden waren, können Sie doch gar
       nicht so genau wissen. Selbst wenn nicht: Lässt sich damit eine
       Diskriminierung sämtlicher Einwanderer rechtfertigen?
       
       SK: Bestimmt ist ein Großteil der muslimischen Bevölkerung sehr glücklich,
       in Frankreich zu sein, und teilt wahrscheinlich nicht die Perspektive der
       Hamas. Bestimmt. Sie haben einfach eine allgemeine Sympathie für das Leiden
       der Palästinenser. Aber sie haben Angst und warten ab. Und es gibt eine
       große islamistische Eroberungsbewegung, für die sich manche begeistern.
       
       Ich kann jedenfalls nicht für die anderen kämpfen. Ich kämpfe für meine
       eigene Seite. Dafür haben wir unser Leben und unsere Freiheit riskiert, und
       übrigens auch die unserer Kinder.
       
       Der Theologe Martin Niemöller hat einmal gesagt: „Als die Nazis die
       Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, denn ich war kein Kommunist …“ 
       
       SK: Ja, ja, das kennen wir.
       
       Und am Ende war also niemand mehr da, weil jeder nur an seine Seite dachte. 
       
       SK: Aber die Ideologie des RN ist nicht faschistisch! Es ist keine
       faschistische Partei, sondern eine populistische.
       
       Es ist eine Partei, die Teile der Bevölkerung diskriminiert und aus dem
       Land heraushaben will. 
       
       SK: In ganz West- und Zentraleuropa gibt es populistische Parteien, die
       pro-jüdisch und pro-israelisch sind. Außer die AfD, das bleibt eine
       deutsche Partei mit Nazi-Ideen. Aber die anderen haben sich davon frei
       gemacht, es sind keine faschistischen Parteien.
       
       Auf EU-Ebene kooperieren diese Parteien – auch der RN – als Fraktion
       „Identität und Demokratie“ mit der AfD.
       
       SK: [6][Marine Le Pen hat mit der AfD gebrochen]. Wir werden sehen, wie
       sich die Gruppierungen im EU-Parlament aufstellen. Die extreme Linke und
       der Pöbel werden sagen: „Faschisten, Faschisten.“ Man darf nicht
       übertreiben, das sind keine Faschisten, sondern Populisten. Sobald eine
       Partei nicht mehr antisemitisch ist, ist sie für mich auch nicht mehr
       rechtsextrem. Das ist alles. Ja, vielleicht ist das ein Blick mit
       Scheuklappen.
       
       Ja, schon. Wenn andere Minderheiten diskriminiert oder entrechtet werden,
       ist das doch nicht vertretbar? 
       
       SK: Es kann vertretbar sein, wenn es gegen Elemente geht, die die
       französischen Gesetze nicht akzeptieren und eigene Gesetze umsetzen wollen,
       etwa die Scharia.
       
       [7][In einem Interview vor zwei Jahren] haben Sie noch gesagt, Herr
       Klarsfeld: Der Rechtsextreme Eric Zemmour spreche über Muslime so, wie man
       früher über Juden sprach. Was ist passiert?
       
       SK: Marine Le Pen ist nicht Zemmour und es ist offensichtlich, dass ein
       laizistisches Frankreich nicht akzeptieren kann, dass Muslime die Scharia
       durchsetzen wollen. Aber, um das klarzustellen: Wenn es ungerechte Gesetze
       gibt, die gegen die Menschenrechte stehen, dann werden wir dagegen
       protestieren.
       
       Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire hat sich klar gegen Antisemitismus
       positioniert und die Anschläge der Hamas als terroristisch verurteilt. Der
       jüdische Sozialist Raphaël Glucksmann hat sich gegen den Parteichef der
       linken La France Insoumise, Jean-Luc Mélenchon, durchgesetzt. 
       
       SK: Das ist eine wahltaktische Einigung. Unvereinbare linke Parteien haben
       plötzlich, in 24 Stunden, eine Einigung gefunden.
       
       Wäre es nicht denkbar, Antisemitismus und Rassismus durch Bildung
       abzubauen, statt mit noch mehr Diskriminierung darauf zu antworten?
       
       SK: Das braucht Generationen. Kinder haben Eltern. Wenn Eltern
       antisemitisch oder antijüdisch sind, wie soll ein Kind da anders werden?
       
       Können Sie sich jetzt wirklich nicht dazu durchringen, zu sagen, dass
       Bildung gegen Antisemitismus besser hilft, als beispielsweise Abschiebung? 
       
       BK: Doch, natürlich.
       
       SK: Wir haben Scheuklappen auf und wir können nicht alle unsere
       Widersprüche regeln.
       
       Es ist ja mehr als ein innerer Widerspruch, wenn Sie sich dazu so
       öffentlich äußern. 
       
       SK: Wir haben uns nicht verändert, es ist ja der Rassemblement National,
       der sich geändert hat. Er hat Millionen Wähler gewonnen, die überhaupt
       nicht antisemitisch sind.
       
       Gruppen von vermummten Rechtsextremen, die von dem RN-Erfolg bei den
       EU-Wahlen berauscht waren, haben in Paris, Nancy und anderen Städten
       Gewalttaten verübt. 
       
       SK: Millionen Franzosen sind wählen gegangen. Ganz generell sind die
       Franzosen nicht antisemitisch. Sie sind da offenbar pessimistischer als
       ich.
       
       Ja. Auch Frankreich hat eine Nazi- beziehungsweise
       Kollaborationsvergangenheit, die nicht umfassend aufgearbeitet wurde. Bis
       heute gibt es weit verbreitete antisemitische Denkmuster.
       
       SK: Die französische Bevölkerung hat im Zweiten Weltkrieg drei Viertel
       aller Juden gerettet. Man muss optimistisch sein. Mir jedenfalls ist es
       lieber, dass die Franzosen eine Partei wählen, die nicht antisemitisch ist
       und die Juden unterstützt. Ob diese Partei das ernst meint? Wir werden
       sehen!
       
       23 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bfmtv.com/politique/front-national/jordan-bardella-reconnait-que-jean-marie-le-pen-s-est-evidemment-enferme-dans-un-d-antisemitisme_AN-202311100295.html
   DIR [2] https://www.tf1info.fr/politique/video-quand-marine-le-pen-poussait-la-chansonnette-aux-cotes-dalain-soral-1532308.html
   DIR [3] https://en.wikipedia.org/wiki/Gayssot_Act
   DIR [4] https://aboutholocaust.org/de/facts/was-geschah-in-vel-d-hiv
   DIR [5] https://www.humanite.fr/politique/antisemitisme/en-2023-les-saillies-antisemites-sont-toujours-legion-a-lextreme-droite
   DIR [6] /AfD-und-franzoesische-Rechte/!5995236
   DIR [7] https://x.com/MediapartVideos/status/1485681648893141000
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Fauth
       
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