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       # taz.de -- Eigentorflut bei der EM: Die tragischen Helden
       
       > Sechs Eigentore zählt die Statistik schon bei dieser EM. Fast jedes
       > zehnte Tor geht ins eigene Netz. Zuletzt kam dies im Schnitt immer
       > häufiger vor.
       
   IMG Bild: Eigentore passieren bei dieser EM ungewöhnlich oft, hier beim Spiel der Türkei gegen Portugal
       
       Von einem „Slapstick“-Tor schreibt die Nachrichtenagentur dpa, die
       türkische Zeitung Hürriyet findet den Treffer „unglücklich“. Der türkische
       Verteidiger Samet Akaydin hatte im Spiel gegen Portugal (0:3) in der ersten
       Halbzeit ein blitzsauberes Eigentor geschossen, nahezu unbedrängt passte er
       am Torhüter vorbei in den leeren Kasten. Akaydin schrieb damit einen Trend
       bei dieser Europameisterschaft fort: Sechs Eigentore fielen in den ersten
       24 Partien. Wenn das so weitergeht, dann könnten am Ende des Turniers, also
       nach allen 51 EM-Spielen, 13 Eigentore zu Buche stehen: Das wäre ein neuer
       Rekord bei Großevents. Zwölf Eigentore wurden bei der Weltmeisterschaft in
       Russland im Jahr 2018 erzielt, elf bei der vergangenen EM. Nur bei der WM
       in Katar waren die Defensiven auf Zack: Nur zwei Eigentore wurden gezählt.
       
       Generell gilt: Da das Spiel schneller und physischer geworden ist, die
       Flanken mit Schmackes in den Strafraum zischen, laufen die Verteidiger auch
       immer wieder Gefahr, ihre Abwehraktionen zu verkorksen und den Ball ins
       eigene Netz zu bugsieren. Heuer haben das [1][Antonio Rüdiger] geschafft,
       [2][der Österreicher Maximilian Wöber], Robin Hranac (Tschechien), Klaus
       Gjasula (Albanien) und der Italiener Riccardo Calafiori.
       
       Und dann noch: Im Spiel zwischen Schottland und der Schweiz (1:1) lenkt
       Fabian Schär einen Schuss von Scott McTominay ins eigene Tor ab. Der
       Kontinentalverband Uefa schreibt den Treffer in der zweiten Halbzeit
       nachträglich McTominay zu. Neben dem selbstschädigenden Verhalten fällt bei
       dieser EM eine weitere Tendenz auf: Weitschusstore. In den ersten 18
       Spielen wurden nach der offiziellen Statistik der Uefa 14 von 47 Treffern
       aus der Distanz erzielt.
       
       Eine mögliche Erklärung: Weil das Hineinkombinieren in den Strafraum immer
       komplizierter und aufwändiger wird, zieht man aus 20 Metern halt mal ab.
       Das ist ein probates Mittel, weil es mittlerweile so viele
       Mittelfeldspieler mit überragender Schusstechnik gibt, etwa [3][das
       türkische Supertalent Arda Güler] oder der Schweizer Altmeister Xherdan
       Shaqiri. Doch zurück zu den Spielern, die Selbsttore oder Eigengoals
       erzielen, wie man in der Schweiz und Österreich auch zu sagen pflegt.
       
       ## 9,8 Prozent Eigentore
       
       Jedes zehnte Tor bei der Euro ist ein Eigentor: 9,8 Prozent. Dieser Wert
       ist auch höher als bei der EM 2021 (7,7 Prozent), im Durchschnitt bewegt
       sich der Anteil an Eigentoren an Fußballgroßevents bei drei, vier Prozent,
       wobei ein Anstieg der Werte in den vergangenen Jahren erkennbar ist. Fiel
       bei der WM 1994 nur alle 52 Tore ein Eigentor, so ist das jetzt erheblich
       öfter der Fall, was bestimmt auch an der offensiven Ausrichtung der meisten
       EM-Teilnehmer liegt: Es gibt kein Vertun, kein „Abtasten und Geplänkel“,
       nein, der Erfolg wird sehr direkt gesucht.
       
       Und so handeln die EM-Geschichten zum Spiel eben oft auch vom tragischen
       Helden, der im Versuch, das Schlimmste zu verhindern, einen Bock schießt.
       In der Bundesliga ist Manfred Kaltz mit seinen 6 Karriere-Eigentoren eine
       kleine Berühmtheit, und herausragend war auch die Partie zwischen AS Adema
       und SOE Antananarivo in Madagaskars erster Liga im Jahr 2002. Das Match
       endete 149:0. Alle Treffer waren Eigentore. Aus Protest gegen eine
       Schiedsrichterentscheidung hatte sich Antananarivo in einen Trotz-Exzess
       hineingesteigert. Kurios auch die Partie zwischen Barbados und Granada im
       Rahmen des Karibik-Cups im Jahr 1994: Zeitweise lag es wegen einer bizarren
       Golden-Goal-Regel im Interesse beider Mannschaften, ein Eigentor zu
       erzielen. Außerdem musste eine Mannschaft in einer Phase des Spiels beide
       Tore verteidigen, um sowohl Tore als auch Eigentore des Gegners zu
       verhindern. Der Guardian nannte das Spiel „eines der seltsamsten
       Fußballspiele aller Zeiten“.
       
       Die Eigentorschützen mussten früher viel Häme und Spott ertragen, heute
       eher die Zusammenschnitte ihrer Fehler auf Youtube. Die Kompilationen
       werden massenhaft geklickt, denn auch heute gilt anscheinend: Schadenfreude
       ist die schönste Freude.
       
       Eigentorschützen sind also große Unterhaltungskünstler, deren Fauxpas mit
       der Zeit immer wertvoller wird. Diese Dimension erschließt sich dem armen
       Samet Akaydin aber wohl erst später.
       
       24 Jun 2024
       
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