URI: 
       # taz.de -- Niedergang der Linkspartei: Nur ein historischer Irrtum?
       
       > Sahra Wagenknecht gilt als Totengräberin der Linkspartei. Dabei ist das
       > Ende der Partei eine nahezu zwangsläufige Entwicklung.
       
   IMG Bild: Suhl, Thüringen, 7. März 1999, Teilnehmer am PDS-Parteitag: Die Linkspartei, früher PDS, konnte ihr Überleben nur durch eine Kette von glücklichen Fügungen sichern
       
       Die Linkspartei kämpft um ihr Überleben. Die [1][Ergebnisse der Europawahl
       und der Kommunalwahlen waren desaströs] – und nur wer an Wunder glaubt,
       wird davon ausgehen, dass die Partei in den nächsten Bundestag kommt.
       Selbst der Behelfsweg über drei Direktmandate, wenn wie zu erwarten die
       Fünfprozenthürde gerissen wird, ist utopisch: Die Konkurrenz durch das
       Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist in den ehemaligen linken
       Wahlkreis-Hochburgen zu groß. Und außer in Thüringen mit dem Zugpferd Bodo
       Ramelow dürfte der Wiedereinzug in die ostdeutschen Parlamente äußerst
       schwierig werden.
       
       Die dominierende Erzählung des Niedergangs geht so: Die dämonische Sahra
       Wagenknecht hat die Linkspartei durch ihre Abspaltung kaputt gemacht. Aber
       das ist eine zu einfache und zu bequeme Erklärung. Abspaltungen
       funktionieren nur, wenn die Abtrünnige auf einer sozialen Basis in der
       Partei fußen kann, wenn sie weiß, dass sie Gefolgsleute hat. Abspaltungen
       sind ein Symptom, nicht die Ursache dafür, dass etwas schiefläuft.
       
       Man kann die Geschichte der Linkspartei im Rückblick auch ganz anders
       deuten: nicht als gleichsam natürliche Erfolgsgeschichte, die erst durch
       innere Richtungskämpfe zerstört wurde. Sondern vielmehr als Schimäre, die
       jetzt auf dem Boden der Realität gelandet ist. Die Linkspartei, früher PDS,
       konnte ihr Überleben nach 1990 nur durch eine Kette von glücklichen
       Fügungen sichern, die jetzt gerissen ist. Ohne diese wäre sie sehr
       wahrscheinlich schon längst Vergangenheit.
       
       Glücksmoment Nummer 1: Es war ironischerweise [2][die Ost-SPD mit ihrer
       Aufnahmesperre für ehemalige SED-Mitglieder] in den Umbruchjahren 1989/90,
       die der SED/PDS das Überleben sicherte. Hunderttausende ehemalige
       SED-Mitglieder suchten nach 1989 eine neue politische Heimat, die die SPD
       verschloss. So sicherte sich die PDS Unterstützer und Trotzwähler und
       konnte ihre Funktion als Kümmererpartei aufbauen für alle jene, die „der
       Westen“ nicht gewollt hat.
       
       Glücksfall Nummer 2: Das Ausnahmetalent Gregor Gysi war die zentrale
       Integrationsfigur der Partei und mit seiner gewitzten Art das sympathische
       Gesicht nach außen (nach innen konnte er durchaus hart durchgreifen) und
       machte die PDS jenseits der Kernklientel attraktiv. Gysi ist politisch
       gesehen Vergangenheit und steht als Zugpferd nicht mehr zur Verfügung.
       
       Drittens war es wieder die SPD, die der PDS in aussichtsloser Lage das
       Überleben sicherte. 2002 flog die PDS aus dem Bundestag; die alten
       Richtungskämpfe brachen wieder auf. Die SPD tat mit der Agenda 2010 der PDS
       einen großen Gefallen: Die Hartz-IV-Proteste mündeten in die Gründung der
       Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG). Mit der Fusion zur
       Linkspartei sicherte sich die PDS die dringend nötige Frischblutzufuhr,
       gerade in Westdeutschland. Nun, in Zeiten von Arbeitskräftemangel und
       Bürgergeld, funktioniert die Anti-Hartz-IV-Front nicht mehr.
       
       Heute ist die Linkspartei ein unüberschaubares Konglomerat von
       Arbeitskreisen, Initiativen und Plattformen. Da gibt es jene, die mit
       geradezu masochistischer Hingabe der alten linken Frage nachgehen, ob der
       Kapitalismus nun überwunden oder sozial korrigiert werden soll.
       Gleichzeitig will die Partei in den Bundesländern regieren und tut es
       teilweise auch noch; man ist – im radikal linken Sprech – Systempartei. Ein
       Widerspruch.
       
       Das Werkeln am 130 Jahre alten Richtungsstreit des Sozialismus, den andere
       sozialistische Parteien in Westeuropa viel pragmatischer gelöst haben (das
       mit der Überwindung wird dort einfach auf Wiedervorlage gelegt, während man
       im Jetzt die konkreten Lebensverhältnisse der Unterprivilegierten
       verbessern will), hat dazu geführt, dass sich der Parteiapparat immer mehr
       von Teilen der eigenen Basis entfremdet hat. Oder anders gesagt: Basis und
       Parteiapparat passen nicht mehr zusammen.
       
       ## Bürgerlich im Ex-SED-Milieu
       
       Natürlich gibt es an der Basis noch überzeugte Marxisten, aber ein großer
       Teil der – ehemaligen – ostdeutschen Anhängerschaft denkt kulturell eher
       konservativ: Einst Marxisten, haben viele nach 1990 etwa eine kleine Firma
       gegründet oder sind als Angestellte in die Privatwirtschaft gegangen, auch
       weil für SED-Mitglieder die Karrierewege im öffentlichen Dienst zunächst
       verschlossen blieben.
       
       Sie erkennen sich in Sahra Wagenknecht mit ihren Häutungen wieder.
       [3][Früher orthodoxe Marxistin, ist sie seit einigen Jahren erklärter Fan
       von Ludwig Erhard]. Sie appelliert an das spezifisch ostdeutsche Milieu,
       das in der Privatwirtschaft unterwegs ist, sich unter Mühen ein bisschen
       Wohlstand erarbeitet hat und in dem „bürgerliche“ Regeln wie Fleiß, Arbeit,
       Ordnung und Respekt vor dem Eigentum zählen. Auch die Migrationsskepsis ist
       nicht eine demagogische Erfindung von Wagenknecht, sondern repräsentiert
       eine weit verbreitete Haltung in diesem Milieu.
       
       ## Apparatepartei alten Typs
       
       Lebensweltlich teilen diese ehemaligen Wähler, die jetzt zum BSW
       übergelaufen sind, nichts mit den „woken“ AktivistInnen der Großstädte, die
       die Parteiführung gewinnen wollte. Aber auch für die „woken“ AktivistInnen
       ist die Linkspartei nur sehr bedingt attraktiv. Sie ist immer noch eine
       Apparatepartei alten Typs, in der Vorstandsbeschlüsse den Rang von heiligen
       Schriften haben (und trotzdem von den vielen Zirkeln in der Partei je nach
       Lage torpediert werden) und Parteitage in alter kommunistischer Tradition
       doch tatsächlich durchnummeriert werden („2. Tagung des 8. Parteitags“),
       was für die Refugee-Aktivistin aus Berlin-Friedrichshain eher abschreckend
       sein dürfte.
       
       Kulturell passt da nichts zusammen. Es gibt keine Klammer, keine gemeinsame
       Erzählung, die das alles zusammenhält. Das Erstaunliche ist nicht, dass die
       Linkspartei nun ums Überleben kämpft. Das Erstaunliche ist, dass dieses
       inkonsistente Konstrukt so lange durchgehalten hat. Manchmal ist es besser,
       wenn alte dysfunktionale Formen verschwinden und sich die Ideale dahinter
       neue Strukturen suchen.
       
       27 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Abschneiden-von-BSW-und-Linkspartei/!6015450
   DIR [2] https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/1135-vom-sed-aufnahmestopp-der-sdp-zur-deutschen-einheit
   DIR [3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kann-sahra-wagenknecht-die-parteigruendung-gelingen-19180382.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gunnar Hinck
       
       ## TAGS
       
   DIR Die Linke
   DIR Sahra Wagenknecht
   DIR BSW
   DIR Social-Auswahl
   DIR PDS
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Die Linke
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR wochentaz
   DIR Elke Breitenbach
   DIR Schwerpunkt Landtagswahlen
   DIR Die Linke
   DIR DDR
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Parteien in Ostdeutschland: Tief verwurzelter Populismus
       
       Erst die AfD, jetzt das BSW: Das ostdeutsche Parteiensystem koppelt sich
       zunehmend ab. Die Wurzeln dieser Entfremdung vom Gesamtstaat reichen tief.
       
   DIR Wahlen in Ostdeutschland: Glitzern statt Hitlergruß
       
       Der Wahlkampf in Sachsen ist derzeit nicht zum Lachen. Doch wir sollten die
       kleinen Hoffnungsschimmer vor Ort feiern.
       
   DIR Neue Spitze bei den Linken gesucht: Zuversicht wird nicht reichen
       
       Der personelle Neuanfang verdeckt die grundsätzlichen Probleme der
       Linkspartei. Bislang fehlt eine Analyse der tiefen Krise.
       
   DIR Linkspartei nach der Wahlschlappe: Rettung dringend gesucht
       
       Bei einer Krisensitzung nach der Europawahl machen die Vorsitzenden der
       Linken deutlich: Sie kleben nicht an ihren Stühlen.
       
   DIR Wahlen in Thüringen: Politik ist kein Ponyhof
       
       Seine Partei ist in Umfragen abgestürzt. Thüringens linker
       Ministerpräsident Bodo Ramelow kämpft dennoch unverdrossen um sein Amt und
       das Land.
       
   DIR Existenzkrise der Linkspartei: Bittere Bestandsaufnahme
       
       Die Linkspartei müsse „ihre Weltsicht modernisieren“, fordert das Netzwerk
       Progressive Linke. Und es hofft, dass es dafür nicht schon zu spät ist.
       
   DIR Sachsens Linkenchef zur Krise der Linken: „Kräftig eins aufs Maul bekommen“
       
       Seine Partei solle sich wieder an die 2. Feuerbachthese von Karl Marx
       erinnern, fordert der sächsische Linkenvorsitzende Stefan Hartmann.
       
   DIR Sahra Wagenknecht: Potenzial für eine Retro-BRD-Partei
       
       Wagenknechts Pläne muss man nicht mögen. Aber sie könnte von der
       linksliberalen Überheblichkeit gegenüber den vermeintlich „Abgehängten“
       profitieren.
       
   DIR Debatte um DDR-Geschichte: Leerstelle im Ost-Diskurs
       
       Darf man über die DDR Gutes schreiben? Die aktuelle Aufregung zeigt: Es
       fehlen neue, unverstellte Blicke auf den SED-Staat.