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       # taz.de -- Auswanderer-Hochburg Imotski in Kroatien: Die Generation Mercedes
       
       > In Imotski wurde kürzlich das erste Gastarbeiter-Denkmal Kroatiens
       > eingeweiht. Geschichten aus einer legendären Kleinstadt, die deutsche
       > Autos liebt.
       
   IMG Bild: Imotski, Kroatien, 8. Juni: das erste Denkmal für die „gastarbajteri“ in Kroatien eingeweiht
       
       Imotski taz40 Jahre lang fuhr Ante Kukavica jeden Samstag um 16 Uhr einen
       Bus voller Gastarbeiter [1][vom kroatischen Imotski] nach Frankfurt. An
       diesem ersten Samstag im Juni steht der pensionierte Chauffeur (75) in
       seinem Geburtsort vor einem Mercedes-Bus O 302 von 1965. „Mit so einem bin
       ich die Tour die ersten Jahre gefahren“, erzählt er. „Die Busse veränderten
       sich, die Lenkräder waren irgendwann nicht mehr aus weißem Bakelit, aber es
       blieben immer Mercedesse.“
       
       Imotski ist die Stadt der „Merđos“, wie [2][die Kroaten] das Statussymbol
       der Gastarbeiter liebevoll nennen. Mit 10.000 Einwohnern und 8.000
       registrierten Mercedessen gilt Imotski als Stadt mit der größten
       Mercedesdichte weltweit.
       
       Zwischen der seit der Antike besiedelten Stadt und der 30 km entfernten
       Adriaküste liegt das Biokovo-Massiv. Es trennt das dalmatinische Hinterland
       vom Meer wie ein Riegel. Mitten im Karst gelegen, ist Imotski umgeben von
       nacktem Stein, sperriger Macchia und zwei riesigen Felskratern.
       
       An diesem Samstag heizt die Sonne den Fels in und um Imotski innerhalb
       kurzer Zeit auf. Um 11 Uhr sind es bereits 32 Grad. Ante Kukavica und der
       Bus würden normalerweise nicht hier, sondern längst im Schatten stehen.
       Aber es ist ein historischer Tag.
       
       In Imotski wird das erste Denkmal für die „gastarbajteri“ in Kroatien
       eingeweiht: ein aus dem Fels der Stadt gehauener Mercedes 115, Baujahr
       1968-1976. Besucher*innen aus Stuttgart und der ganzen Welt werden
       erwartet. Am Tag zuvor war verraten worden, wer die wochenlang als
       „Überraschungsgast“ angekündigte Person sein würde: Ex-Bundeskanzlerin
       Angela Merkel.
       
       Nicht nur die innige Verbindung zwischen Imotski und dem Mercedes sorgt für
       Witze über die Leute aus Imotski. Über keine andere Stadt Kroatiens macht
       man so viele Scherze, über keine andere gibt es so viele Vorurteile und
       Legenden. Bis heute sagt man den Leuten aus Imotski nach, Großmeister im
       Schwarzhandel und Schmuggel zu sein – kein Wunder, liegt doch die bosnische
       und damit die heutige EU-Außengrenze nur knapp sieben Kilometer entfernt.
       
       ## Imotski gilt als Synonym für Auswanderung
       
       Leute aus Imotski gelten als einfallsreiche Schummler und Betrüger und
       politisch bis auf höchste Ebenen einflussreiche Unternehmer. Der Tunnel,
       der unter riesigem Aufwand jahrelang durch den Biokovo gebohrt wurde, ist
       angeblich nur wegen des Einflusses der Leute aus Imotski gebaut worden:
       damit sie 20 km Umweg auf dem Weg ans Meer sparen.
       
       Imotski wird in Kroatien außerdem synonym für Auswanderung (nach
       Deutschland) verwendet. Fast 20 Prozent der Einwohner*innen waren in
       den 1970er Jahren als „zwischenzeitlich im Ausland arbeitend“ registriert,
       Imotski war damit die Gemeinde [3][in Jugoslawien], aus der am meisten
       Menschen auswanderten. „Teilweise fuhren wir hier samstags um 16 Uhr mit 10
       Bussen gleichzeitig los“, erzählt Chauffeur Kukavica. „Ging die Tour nur
       bis München, nannten wir das Lokalverbindung“.
       
       Autopoduzeće Imotski, das Busunternehmen, für das Kukavica gearbeitet hat,
       war einst das größte Kroatiens, heute spielt es keine große Rolle mehr.
       Imotski steht aktuell wieder im Zentrum einer neuen Auswanderungswelle.
       Heutzutage nutzt man zum Auswandern aber den eigenen Mercedes oder das
       Flugzeug.
       
       Der Platz, auf dem das Gastarbeiter-Denkmal steht, wurde vom Bürgermeister
       umbenannt in „Platz der Auswanderer Imotskis“. Er liegt zentral, direkt an
       der Durchfahrtstraße der Stadt. Zwischen den hunderten Mercedes-Oldtimern,
       die an diesem Juni-Samstag um den Platz fahren, reihen sich auch neueste
       Modelle der A- und E-Klasse und ein Mercedes-Sprinter mit der Aufschriften
       eines Catering-Unternehmens aus Dreieich-Sprendlingen.
       
       Über dem Denkmal ragt ein Kran in die Luft, an dem die kroatische und die
       deutsche Fahne wehen. Ein Mann läuft über den Platz und schwenkt eine
       riesige Fahne, die auf der einen Seite die deutsche, auf der anderen die
       kroatische Flagge.
       
       Die Idee für das Denkmal an die Gastarbeiter hatte Ivan Topić Nota, heute
       im Ruhestand und Chef des Oldtimer Clubs Imotski. „Das Denkmal ist auch ein
       Zeichen der Dankbarkeit. Wir sind Deutschland dankbar dafür, dass es uns
       ein besseres Leben ermöglicht hat“, erzählt der gewichtige und gegerbte
       Nota, der eindrucksvoll große Hände hat.
       
       „Ich kam aus einer sehr armen Familie“, erzählt er. „Wie viele andere ging
       ich damals nach Deutschland, um dort Geld für unser Brot zu verdienen und
       vielleicht eine Milchkuh und einen Schwarz-Weiß-Fernseher nach Hause zu
       bringen. Stattdessen kehrten wir mit einem Mercedes zurück.“
       
       Zwischen Mercedes-Oldtimern und Besucher*innen stehen zwei Esel.
       Čedomir Lizatović, ein älterer Herr mit langem weißen Haar und Bart, führt
       sie an einem Strick. „Die Esel trugen früher die Koffer der Gastarbeiter
       zum Bus. Der Esel wurde ausrangiert und durch den Mercedes ersetzt“,
       erzählt Lizatović. „Heute wollen die Leute wieder Esel. Aber nur zum
       Kuscheln.“
       
       ## Hommage Schlitzohrigkeit und Durchsetzungswillen
       
       Lizatović wirkt wie einer der Figuren aus „Bettler und Söhne“, der
       kroatischen Kult-Serie aus den 1970er Jahren, die in der Gegend von Imotski
       spielt. Die TV-Erfolg hat keinen ganz kleinen Anteil an der Verfestigung
       der Vorurteile über die Leute von Imotski.
       
       Sie beginnt am Ende des Ersten Weltkriegs, erzählt von den bettelarmen
       Einwohner*innen der Gegend, die das Handwerk des Bettelns zur höchsten
       Kunstform entwickelten. Der Großmeister der Bettler ist der alte Kikaš,
       dessen Enkel es im Laufe der Serie und der Jahrzehnte vom hausierenden
       Habenichts zum reichen Unternehmer bringt.
       
       Statt die erbettelten Groschen zählt Matan irgendwann die Mercedesse in
       seiner Garage. Die Serie ist eine Hommage an den Witz, die
       Schlitzohrigkeit, den Durchsetzungswillen und den Einfallsreichtum der
       Leute aus Imotski, ohne dabei die leicht übersteigerte Liebe zum Geld, zum
       Prahlen und zum Patriarchat außen vorzulassen.
       
       Die Darstellung ist nicht komplett fiktiv. Historisch nämlich waren die
       Leute aus Imotski berühmte Bauchladenverkäufer. Als solche hatten sie sich
       bis zum Zweiten Weltkrieg einen Namen nicht nur in dieser Gegend gemacht.
       Sie zogen bis nach Zagreb, Wien, Prag und New York, um Schnürsenkel und
       Streichhölzer zu verkaufen. Noch heute ist der Fußballfanclub Imotskis nach
       ihnen benannt: Galantari.
       
       Zum Arbeiten ins Ausland zu gehen, hat in diesem kargen Landstrich also
       lange Tradition. Dass die aktuelle Auswanderungswelle junger Kroat*innen
       von Kirche und Politik als Vaterlandsverrat populistisch ausgeschlachtet
       wird, ist im Fall von Imotski komplett absurd. Zumal die meisten – auch das
       typisch für die Leute aus Imotski – immer zurückkehrten und mit dem im
       Ausland verdienten Geld ihre Familien und Freunde nicht nur mit Mercedessen
       versorgten.
       
       Ein paar Meter neben dem Mercedes-Denkmal wird den neuen Auswanderern
       bereits ein eigenes Denkmal errichtet: auf einer alten Ziegelsteinmauer am
       Busbahnhof, die „Klagemauer“ genannt wird, notiert ein fleißiger Bürger der
       Stadt seit 2018 die Namen derjenigen, die die Stadt Richtung Ausland
       verlassen.
       
       ## Hochburg der politischen Rechten
       
       2018, exakt 50 Jahre nach der Unterzeichnung des einzigen deutschen
       Arbeiteranwerbeabkommens mit einem kommunistisch regierten Land,
       Jugoslawien, zu dem Kroatien zwischen 1945 und 1991 gehörte. Schon damals
       standen Gastarbeiter*innen unter Verdacht, antikommunistisch, gar
       Anhänger der kroatischen Faschisten zu sein, die den Krieg gegen die
       jugoslawischen Partisanen verloren hatten.
       
       Insbesondere Imotski gilt nicht nur als Hochburg der Mercedesse und der
       Auswanderer, sondern auch als Hochburg der politischen Rechten. Noch in den
       Nuller Jahren gab es in der Innenstadt das „Café Adolf“ – die umjubelten
       Auftritte des rechten Rockbarden Thompson dort sind legendär.
       
       Kroaten im ausländischen „Exil“ waren zu jugoslawischen Zeiten die Basis
       für die Rechte Kroatiens. Doch gerade im Fall Imotski weisen Historiker
       darauf hin, das Tito selbst dazu beitrug, diese Rechten zu stärken: Statt
       in dieser karstigen Gegend in die Infrastruktur und Urbanisierung zu
       investieren, war der kommunistische Staat froh, die unzuverlässigen
       Provinzler*innen loszuwerden und auf diese Weise auch dem Versprechen
       der Vollbeschäftigung ein Stück näherzukommen.
       
       Weil die Leute aus Imotski ausgeschlossen waren von Modernisierung und
       Industrialisierung des eigenen Landes, sei ihre Ablehnung Jugoslawiens und
       ihre nationalistische Hoffnung auf das unabhängige Kroatien in den 1990er
       Jahren so groß – meint der Publizist Jurica Pavičić. Die Leute aus Imotski
       hätten Jugoslawien nichts, Deutschland hingegen alles zu verdanken.
       
       Deutschlandfahnen wehen an diesem ersten Juni-Samstag rund um das
       Gastarbeiter-Denkmal überall. Die angekündigte Angela Merkel kam aber doch
       nicht nach Imotski, und auch sonst kein Vertreter der deutschen Regierung.
       „Diese Leute haben mit ihren eigenen Händen Deutschland aufgebaut und ihre
       Rücken kaputt geschuftet. Heute interessiert sich keine Sau mehr für sie“,
       sagt ein Passant. „Eine Schande.“
       
       Von der kroatischen Regierung war übrigens auch niemand da. Man könnte
       mutmaßen, dass sich niemand den Leuten aus Imotski aussetzen wollte, deren
       Hoffnung auf Wohlstand auch im unabhängigen Kroatien enttäuscht wurde und
       sie sich erneut auf dem Weg ins Ausland machen.
       
       Bevor an diesem Juni-Samstag ein Priester auf dem Platz der Auswanderer
       Imotskis das enthüllte Mercedes-Denkmal weiht, spielt das
       Mandolinenorchester Imotski noch die Erkennungsmelodie der alten
       Fernsehserie „Bettler und Söhne“.
       
       Der Bettleraufsteiger Matan, Hauptfigur der Serie, hat längst auch schon
       ein Denkmal aus Stein in Imotski. Es steht vor dem Park Shop, einer
       modernen Einkaufs-Mall der Stadt, sozusagen die Nachfolgerin der legendären
       Bettler und Bauchladenverkäufer.
       
       29 Jun 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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