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       # taz.de -- Gleichwertigkeitsbericht der Regierung: Nehmt die Ost-West-Brille ab!
       
       > Der Gleichwertigkeitsbericht zeigt: Die regionalen Unterschiede in
       > Deutschland nehmen ab. Doch die Wahrnehmung ist verzerrt und voller
       > Vorurteile.
       
   IMG Bild: Ob Ost oder West – es gibt auch im Westen schlechte und im Osten gute Lebensbedingungen
       
       Die Bundesregierung hat einen Bericht vorgestellt, [1][der die
       Lebensverhältnisse in Deutschland untersucht]. Und man sollte ergänzen:
       endlich! Dass sie bisher diese Daten nicht hatte, um Landkreise
       systematisch zu vergleichen, dass sie nicht einmal wusste, wie sich ihre
       Fördermittel verteilen, ist absurd.
       
       Nun kann jeder Bürger nachlesen, wie die Versorgung mit
       Kinder*ärztinnen in seinem Landkreis ist, wie die Feinstaubbelastung
       oder die Entwicklung der Gewerbesteuer. Kurz – wie lebenswert es in seiner
       Region ist.
       
       Zusammenfassend gibt es endlich mal gute Nachrichten: Die
       Lebensverhältnisse gleichen sich an. Zwar gibt es große Unterschiede, wenn
       man etwa die Wirtschaftskraft von Wolfsburg mit dem Erzgebirge vergleicht.
       Große Unterschiede zwischen Ost und West gibt es auch beim Gehaltsniveau,
       der Kinderbetreuung, dem Gender-Pay-Gap. Aber sie werden geringer, die
       Wirtschaft im Osten wächst schneller. Und es fließen deutlich mehr
       Fördermittel nach Osten – zu Recht.
       
       ## Eine Brille ohne Durchblick
       
       Es wäre gut, wenn sich diese Erkenntnisse auf die öffentliche Debatte
       auswirken. Denn es ist einfach, vom abgehängten Osten zu sprechen – doch es
       verstellt den Blick. Denn „den Osten“ gibt es nicht. Und der Bericht zeigt,
       dass das Leben im Speckgürtel von Berlin besser vergleichbar ist mit
       ähnlichen Landkreisen im Westen als mit der Prignitz. Und viele Probleme
       gibt es in Ost und West zugleich, etwa Regionen, die überaltern. Statt
       also auf das Trennende zu schauen, wäre es produktiv, Gemeinsamkeiten zu
       entdecken.
       
       Die Ost-West-Brille hat Folgen: Für den Bericht wurden 30.000 Menschen in
       allen Landkreisen danach gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind
       (das gab es noch nie!). Das gute Ergebnis: Trotz aller Probleme sind zwei
       Drittel der Deutschen zufrieden, auch in Ostdeutschland. Gleichzeitig
       glaubt aber die Mehrheit der Ostdeutschen, dass es sich in anderen Regionen
       besser leben ließe.
       
       Als in der vergangenen Woche die Meldung kursierte, dass die Bahn einige
       Fernverkehrsverbindungen streichen wolle, wurde in vielen Medien, [2][auch
       in der taz,] vor allem der mögliche Wegfall von Zugverbindungen in
       Ostdeutschland kritisiert. Die Aufregung war groß – der Osten wird mal
       wieder abgehängt! Der Bericht der Bundesregierung zeigt nun: In ganz
       Deutschland ist die Hälfte der Bevölkerung unzufrieden mit der Versorgung
       mit Nahverkehr und Radwegen.
       
       In anderen Bereichen fallen [3][subjektive Wahrnehmung] und objektive Lage
       auseinander. In den Landkreisen an der Grenze zu Polen ist etwa das Gefühl
       der Sicherheit gering, obwohl die Kriminalitätsstatistik zeigt, dass es in
       Großstädten deutlich gefährlicher ist.
       
       Vor dem Verfassen des nächsten Tweets oder Leitartikels über den
       abgehängten Osten oder das Erstarken der AfD lohnt es sich also, die Brille
       zu wechseln, und nicht nur mit gefühlten Wahrheiten zu argumentieren.
       
       3 Jul 2024
       
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