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       # taz.de -- Sozialpolitik in Argentinien: Auf dem Rücken der Bedürftigen
       
       > Der libertäre Präsident Argentiniens organisiert das System der
       > Armenhilfe neu und setzt auf umstrittene Partner. Darunter leiden die
       > Bedürftigen.
       
   IMG Bild: Wer kann sich das noch leisten? Bei einem Fleischer in Buenos Aires im April 2024
       
       Buenos Aires taz | Werden sich Argentiniens Präsident [1][Javier Milei und
       Bundeskanzler Olaf Scholz] am Sonntag in Berlin tatsächlich die Hand geben?
       Der Empfang mit militärischen Ehren und die gemeinsame Pressekonferenz sind
       bereits abgesagt worden, „ausdrücklich auf Wunsch des argentinischen
       Präsidenten“, so der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit.
       
       Dabei könnte sich der [2][libertäre Ökonom Milei] mit dem ehemaligen
       sozialdemokratischen Finanzminister Scholz intensiv darüber austauschen,
       wie man die schwarze Null im Haushalt am besten erreicht. Mileis brutale
       Sparpolitik liefert einen aktuellen Anlass. Dazu gehört die Revision der
       Sozialausgaben – und das in einem Land, in dem bald 60 Prozent der
       Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.
       
       „Das Brot gehört uns“, sagte der Vorsitzende der argentinischen
       Bischofskonferenz, Bischof Oscar Ojea, am vergangenen Mittwoch bei einem
       Gottesdienst in Ciudad Evita, einem Armenviertel am Rande der Hauptstadt
       Buenos Aires. Der Bischof kritisierte, dass die Regierung die
       Lebensmittelverteilung eingestellt hatte und forderte einen „nationalen
       Ernährungsplan“.
       
       Der Gottesdienst war auch eine Hommage an diejenigen Frauen, die während
       der Coronavirus-Pandemie mit ihren meist kleinen Gemeinschaftsküchen
       Hunderttausende von Menschen versorgt haben. Wer eine solche Küche gründen
       und von der Regierung Unterstützung erhalten wollte, konnte sich online im
       Registro Nacional de Comedores y Merenderos (ReNaCom) registrieren lassen.
       
       ## Armut rasant angestiegen
       
       In diesem Register sind heute bis zu 44.000 Volksküchen eingetragen, von
       denen allerdings ein Großteil nicht mehr existiert. Die Regierung nutzte
       dies medienwirksam: Tagelang beherrschten registrierte, aber nicht mehr
       existierende Armenküchen, die angeblich weiterhin mit Lebensmitteln
       versorgt wurden, die Schlagzeilen.
       
       Als der [3][libertäre Präsident Javier Milei] im Dezember 2023 sein Amt
       antrat, lebten 42 Prozent in Armut, 12 Prozent davon in extremer Armut. Das
       geht aus Daten der nationalen Statistikbehörde Indec hervor. Nach
       Schätzungen der Katholischen Universität von Buenos Aires ist die
       Prozentzahl der Menschen, die in Armut leben, inzwischen auf 58 Prozent
       angestiegen, davon 17,5 Prozent in extremer Armut. In absoluten Zahlen
       leben damit 24,9 Millionen Menschen in Armut, 7,8 Millionen in extremer.
       
       Niemand bestreitet die prekäre Lage, auch nicht Präsident Milei. Dessen
       erklärtes Ziel ist es, das System der Armenhilfe neu zu organisieren.
       Sozial- und Nahrungsmittel sollen direkt an die Bedürftigen gehen – und
       nicht mehr über die sozialen Basisorganisationen und kirchlichen
       Einrichtungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten für die Weitergabe
       der staatlichen Unterstützung zuständig waren. Seine Begründung: Es sei
       nötig, den bisherigen Verteilungsprozess zu evaluieren und angebliche
       Korruption einzudämmen.
       
       Die Verteilung von Nudeln, Reis, Speiseöl und anderen nicht verderblichen
       Lebensmitteln an die Suppenküchen setzte er aus. Stattdessen hat die
       Regierung nun die finanzielle Unterstützung für Kinder (AUH) und
       Lebensmittel (Tarjeta Alimentar), die über personalisierte Debitkarten
       vergeben werden, deutlich erhöht. Wer eine dieser Debitkarten besitzt,
       bekommt die Unterstützungssumme monatlich überwiesen und kann damit
       einkaufen.
       
       ## Strafanzeige gegen Ministerin
       
       Doch die Versorgungslücke, die durch die Einstellung der
       Lebensmittellieferungen entstanden ist, hat die Regierung schlicht
       unterschätzt, auch weil längst nicht alle der darauf angewiesenen Menschen
       eine solche Debitkarte besitzen, vor allem nicht die Älteren unter ihnen.
       
       Bereits am 5. Februar erstattete Juan Grabois von der Unión de los
       Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular, einem Zusammenschluss
       informeller Arbeiter*innen, Strafanzeige gegen die für Sozialpolitik
       zuständige Ministerin Sandra Pettovello. Der Vorwurf lautete „Verletzung
       der Amtspflicht“ angesichts der Nichtauslieferung von Grundnahrungsmitteln.
       Richtig Fahrt nahm der Fall Ende Mai auf: Demonstrant*innen zogen vor
       ein staatliches Lagerhaus in Buenos Aires und beschuldigten die Regierung,
       dort 6.000 Tonnen Lebensmittel zu horten.
       
       Während die Regierung sich damit rechtfertigte, dass es sich um Vorräte für
       den Katastrophenfall handele und nur ein sehr geringer Teil das
       Haltbarkeitsdatum erreicht habe, kamen immer mehr Details ans Licht. Zum
       Beispiel, dass bei 300 Tonnen Milchpulver das Haltbarkeitsdatum in wenigen
       Wochen ablaufen würde. Schließlich lenkte die Ministerin Pettovello ein und
       beauftragte die Armee, das Milchpulver sofort abzutransportieren und der
       Stiftung für Kinderernährung CONIN zu übergeben.
       
       Allerdings: CONIN ist eine Stiftung für Kinderernährung, deren
       ultrakonservativer Vorsitzender Abel Albino Mitglied in der
       erzkonservativen, geheimbündlerischen Organisation Opus Dei ist. Mit CONIN
       unterzeichnete die Ministerin im Februar ein Abkommen über den Kauf von
       Lebensmitteln für ihre Suppenküchen.
       
       ## Regierung setzt auf fundamentalistische Bewegungen
       
       Kurz zuvor hatte sie sich außerdem mit der Christlichen Allianz der
       Evangelischen Kirchen der Argentinischen Republik (ACIERA) geeinigt, einem
       Zusammenschluss von evangelikalen Fundamentalisten: Die Ministerin sagte
       ihnen eine erste Zahlung von umgerechnet rund 190.000 Euro für den Kauf von
       Lebensmitteln für ihre über 700 Volksküchen zu.
       
       Ob die Ministerin ihre Zusagen eingehalten hat, ist nicht klar. Fest steht
       jedoch, dass sich die Regierung auf zwei fundamentalistische religiöse
       Bewegungen stützt, die in Argentinien bei der Versorgung der Armen mit dem
       Vatikan konkurrieren.
       
       21 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Vogt
       
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