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       # taz.de -- Kunst und Krankheit: Fenchel reinigt die Augen
       
       > Der Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zeigt künstlerische Arbeiten zu
       > Gesundheit und Krankheit. Auch die Geschichte des Bethanien-Krankenhauses
       > kommt vor.
       
   IMG Bild: Tomás Espinosas „Ein Sommer in Berlin“ 2012-2021, Teil der Ausstellung „Aus der Krankheit eine Waffe machen“
       
       Im Jahr 1972 veröffentlichte das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) an
       der Universität Heidelberg die Agitationsschrift „Aus der Krankheit eine
       Waffe machen“. [1][Das SPK] hatte sich 1970 aus
       Psychatriepatient*innen und dem Uni-Assistenzarzt Wolfgang Huber
       gegründet und setzte sich gegen die damals übliche „Verwahr-Psychiatrie“
       und für eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses zwischen
       Ärzt*innen und Kranken ein.
       
       Wegweisend war die Gruppe in der Art und Weise, wie sie die
       gesellschaftliche Bedingtheit und nicht nur die medizinische Ursachen
       psychiatrischer Erkrankungen betrachtete. „Krankheit“, so steht es in
       besagter Publikation, für die Jean-Paul Sartre ein Vorwort beisteuerte,
       „ist Voraussetzung und Resultat der kapitalistischen
       Produktionsverhältnisse“. Das SPK radikalisierte sich mit der Zeit, wurde
       verboten, einzelne Mitglieder schlossen sich der RAF an.
       
       Dass sich die umfangreiche Gruppenausstellung, kuratiert von Linnéa
       Meiners, die aktuell im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zu sehen ist und sich
       dort mit „künstlerischen Perspektiven als Teil gesundheitspolitischer
       Bewegungen“ beschäftigt, ihren Titel von jener Schrift SPK ausborgt, kann
       durchaus programmatisch verstanden werden.
       
       Auch die beteiligten Künstler*innen verstehen Krankheiten nicht als
       individuelle Probleme, sondern setzen diese in gesellschaftliche
       Zusammenhänge. Um Selbstbestimmung geht es oft, um diverse Kämpfe, die in
       Vergangenheit und Gegenwart ausgefochten werden und wurden.
       
       Auch solche rund um das Bethanien, das Mitte des 19. Jahrhunderts als
       Central-Diakonissenanstalt und Krankenhaus Bethanien gebaut wurde, als die
       Charité aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen nicht mehr ausreichte, und
       1970 dann als Krankenhaus stillgelegt wurde.
       
       Proteste von Bürgerinitiativen verhinderten damals den Abriss des Gebäudes,
       das mittlerweile unter Denkmalschutz steht. Das Kampfkomitee Bethanien
       forderte Anfang der 1970er eine Weiternutzung des Hauses als Krankenhaus,
       genauer gesagt als Kinder-Poliklinik, konnten sich jedoch nicht
       durchsetzen. [2][Stattdessen zogen Künstler*innen ein].
       
       Schokofabrik und HeileHaus 
       
       Gerne noch ein wenig größer hätte der Teil der Ausstellung ausfallen
       können, der sich mit diesen Hintergründen beschäftigt, der
       historisch-dokumentarische Part, in dem außerdem die Geschichte des
       [3][Kreuzberger Frauenzentrums Schokofabrik] und des
       [4][Gesundheitsprojektes HeileHaus] erzählt werden.
       
       Ebenfalls ins Kreuzberg der 1970er und 1980er Jahre führt der aus
       Archivmaterialien zusammengestellte Beitrag von [5][Julia Bonn und Inga
       Zimprich von der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe]. [6][Ulf Mann]
       wird darin vorgestellt, geboren 1941, verstorben 2023, Erbe eines
       Pharmakonzerns, der mit diesem die Stiftung Umverteilen gründete,
       Mitbegründer außerdem des Apothekerkollektiv am Viktoriapark, das
       Apotheken als politische Orte verstand, nicht zuletzt leidenschaftlicher
       Sammler von gesundheitlichen und gesundheitspolitischen Dokumenten aller
       Art.
       
       Schriftwechsel des Apothekerkollektivs sind dort dokumentiert, dass ein
       Augendampfbad mit Fenchelsamen nach Demonstrationen reinigt und stärkt,
       erfährt man auf einem kleinen Zettel, auf einem anderen die chemische
       Zusammensetzung menschlichen Schweißes.
       
       Von gegenwärtigen Kämpfen erzählen andere Arbeiten. Tomás Espinosa hat
       rosafarbene, überdimensionierte Pillen im Flur des Kunstraums verteilt.
       Ihre Beschriftung „572 Tri“ verweist auf ein Medikament, das die
       HI-Viruslast senkt.
       
       „Big crip energy“ 
       
       Gleich im Eingangsbereich proklamiert Jessica Cummin aka The Chronic Iconic
       auf von der Decke hängenden Transparenten „Big crip energy“. Spüren kann
       man jene unter anderem in der experimentellen Kurzdoku „CTV (Wenn ich Dir
       sage, ich habe Dich gern…)“ von Eva Egermann & Cordula Thym – bei der
       Diagonale 2023 wurde diese mit dem Preis für innovatives Kino ausgezeichnet
       – ein humorvoll-poetisch-punkiger Einblick, in ein inklusives Fernsehen
       jenseits ableistischer Stereotype.
       
       Vorbildlich ist neben der Vielfalt der Perspektiven und Denkanstöße auch,
       wie versucht wird, für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und
       Beeinträchtigungen zugänglich zu sein. Hocker und FFP2-Masken sind
       erhältlich. Performances werden zum Teil in zwei Versionen veranstaltet,
       mit vielen und wenigen sinnlichen Eindrücken. Für neurosensible Menschen
       sind außerdem spezielle Zeitfenster reserviert, in denen Lautstärke, Licht
       und Besucher*innenzahl reduziert sind.
       
       Es gibt Führungen in Gebärdensprache und solche für Blinde und
       Sehbehinderte. Zu jeder Arbeit sind Texte in einfacher Sprache verfügbar.
       Einen Audioguide gibt es auch. Barrierefrei ist der Zugang zu und in den
       Ausstellungsräumen ohnehin. Standard müsste zumindest Letzteres eigentlich
       sein, ist es aber bei Weitem nicht in allen kommunalen Galerien der Stadt.
       
       2 Jul 2024
       
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