URI: 
       # taz.de -- Bundesweit größte Geflüchtetenunterkunft: So kann man hier nicht leben
       
       > Im früheren Berliner Flughafen Tegel ist Deutschlands größte
       > Geflüchtetenunterkunft eingerichtet. Die Zustände in der Massenbleibe
       > sind abschreckend.
       
   IMG Bild: Platz zum Schlafen, ein bisschen Stauraum: ein „Wohnbereich“ im Ankunftszentrum Tegel
       
       Berlin taz | Das „Ankunftszentrum Tegel“ (Akuz) auf dem Gelände des
       früheren Flughafen Tegel ist Deutschlands [1][größte Unterkunft für
       Geflüchtete], vermutlich die teuerste – und viele sagen, auch die
       schlechteste. Auf einer Fachtagung kürzlich im Berliner Abgeordnetenhaus
       war die einhellige Meinung der Flüchtlings- und Kinderrechtsexperten, der
       Politiker und Betroffenen, dass die Bedingungen in Tegel inhuman sind, das
       Leben dort krank macht – [2][und die Einrichtung geschlossen gehört].
       
       Doch das Gegenteil wird geschehen: Fast 4.700 Menschen leben dort zurzeit,
       Platz ist für 6.600 – und bis Herbst sollen noch einmal 1.000 Plätze
       entstehen. Es gebe keinen anderen Platz in der Stadt für die Menschen,
       sagen die Verantwortlichen von Politik und Verwaltung.
       
       Man muss sich das Ankunftszentrum so vorstellen: In Terminal C, wo früher
       vor allem die Easyjet-Flieger abgefertigt wurden, findet nun an Schaltern
       die Registrierung und Befragung neu ankommender Flüchtlinge statt. Es gibt
       einen Pflegebereich für Bettlägerige, einen Kiosk, ein Fundbüro, eine
       Kleiderkammer und einen Schlafbereich für etwa 500 Menschen.
       
       Die meisten Geflüchteten leben allerdings in weißen „Leichtbauhallen“
       genannten Großzelten neben dem Gebäude. Je drei dieser „Hallen“ sind
       zusammengebaut, die mittlere hat einen durch Security überwachten Eingang
       und ist der Aufenthalts- und Essensbereich mit Infotresen, abschließbaren
       Spinden, Bierbänken und -tischen. Rechts und links schließt sich eine
       Schlafhalle mit je 360 Betten an, die mit dünnen, nicht bis zur Decke
       reichenden Pappwänden und Vorhängen in „Waben“ aufgeteilt sind.
       
       ## Dicht an dicht
       
       Jede Wabe enthält sieben Doppelstockbetten und ein Regal, in das aber keine
       14 Koffer passen, sodass überall Habseligkeiten und Gepäckstücke
       herumstehen. Die Enge ist bedrückend, der Geräuschpegel hoch, Privatsphäre
       und Ruhe können die Bewohner hier nicht finden. Einander völlig Fremde
       hausen dicht an dicht, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, Kranke,
       Gesunde.
       
       Für ein paar Tage kann man das vermutlich aushalten, und für mehr war das
       Akuz auch gar nicht gedacht. Im März 2022 wurde es eröffnet, kurz nach
       Beginn des Ukrainekrieges, um die vielen Kriegsflüchtlinge, die in Berlin
       ankamen, in andere deutsche Städte und Kommunen zu verteilen. Eine
       Überbrückung für wenige Tage sollte das Akuz sein, ein Drehkreuz für die
       Geflüchteten, von denen nur ein kleiner Teil in Berlin bleiben sollte.
       
       Doch weil es viel zu wenig Wohnungen gibt in der Stadt oder „richtige“
       Heimplätze, die humanitären Standards genügen, und weil immer neue
       Flüchtlinge nach Berlin kommen – 2024 waren es bis Ende Mai rund 4.000
       Asylbewerber und 4.200 Ukrainer –, leben die Menschen immer länger in
       Tegel. Im Schnitt 200 Tage, manche schon über ein Jahr. Die taz hat mit
       einer jungen Frau aus der Ukraine gesprochen, die seit Februar 2023 in
       Tegel ist. „Ich komme nur zum Schlafen her“, sagt die Studentin, die aus
       Angst vor Ärger ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Tagsüber sei
       sie in Bibliotheken, um zu lernen, sie studiere weiter online an einer
       ukrainischen Uni. Um etwas Intimität in der Wabe zu bekommen, hängt sie
       manchmal ein Tuch an ihrem Bett auf. „Aber das ist verboten, die Betreuer
       sagen wegen Brandschutz.“
       
       ## Viele Klagen über schlechtes Essen
       
       Auch Oleksandr Ishchuk, der seit September 2023 in Tegel lebt, leidet unter
       der Enge. Vor allem aber am Essen und der schlechten medizinischen
       Versorgung. Beschwerden über das Essen seien die häufigste Klage, sagte
       Kleopatra Tümmler, die Betriebsleiterin vom Deutschen Roten Kreuz (DRK),
       kürzlich bei einem Presserundgang. Ein Wunder ist das nicht, wer will über
       Monate Großküchenkost essen. Und für Menschen, die alles verloren haben,
       ist Essen nochmal wichtiger, denn das Selbstgekochte nach eigener Sitte
       kann ein Stück Heimat sein und Trost.
       
       Bei Ishchuk kommt hinzu: Der 63-Jährige ist Diabetiker und hat in der
       Ukraine Schonkost gegessen. In Tegel bekommt er diese nicht – und steht
       damit nicht allein, berichtet Diana Henniges von der NGO „[3][Moabit
       hilft]“. „Wir hatten schon viele Diabeteskranke, Nieren- und Leberkranke in
       der Beratung, die alle spezielle Nahrung zu sich nehmen müssen, sie aber
       nicht bekommen in Tegel.“
       
       Das Deutsche Rote Kreuz als Betreiber erklärt auf taz-Anfrage, es gebe in
       Tegel in der Tat keine „spezielle Diabetikerkost“, weil die deutsche
       Gesellschaft für Ernährung und die deutsche Diabetes Gesellschaft dies
       nicht empfehle, sondern „ausgewogene, abwechslungsreiche,
       ballaststoffreiche Ernährung“. Doch Ishchuk verträgt das Essen nicht. Er
       versucht sich selbst zu ernähren, aber das ist schwierig ohne
       Kochmöglichkeit. „Ich werde immer kränker“, sagt er und zeigt eine Wunde am
       Daumen, die nicht verheile – ein bekanntes Problem bei falsch eingestellter
       Diabetes.
       
       Schwierig ist auch die medizinische Betreuung. Anfangs, berichtet Ishchuk,
       habe er seine Diabetestabletten von den Ärzten in Tegel bekommen. Es gibt
       dort neben dem Pflegebereich ein Erste-Hilfe-Zelt, wo tagsüber zwei Ärzte,
       ein Allgemeinmediziner und ein Kinderarzt Dienst tun, Tag und Nacht sind
       zudem Sanitäter vor Ort. „Aber nach drei Monaten hieß es, ich soll mich um
       meine Krankenkassenkarte kümmern und zum Arzt gehen.“ Die Karte habe ihm
       das Jobcenter aber erst nach 10 Wochen gegeben. Gerettet habe ihn in dieser
       Zeit Moabit hilft, erzählt Ishchuk. Die Helfer hätten ihm seine Medikamente
       besorgt und auch beim Jobcenter-Antrag geholfen.
       
       ## Ohne Krankenversicherung
       
       Das Problem mit dem „Rechtskreiswechsel“ von Sozialamt zu Jobcenter haben
       viele Geflüchtete. In Berlin dauert es teilweise bis zu vier Monate, bis
       die Menschen wieder eine Krankenversicherung haben, in dieser Zeit ist
       Krankwerden ganz schlecht.
       
       Kranksein ist in Tegel noch schlechter: Die hygienischen Verhältnisse sind
       katastrophal, es gibt Bettwanzen, Kakerlaken und Mäuse, die Sanitäranlagen
       sind laut vieler Berichte oft völlig verdreckt – obwohl der Betreiber sagt,
       es werde mehrfach am Tag gereinigt. „Tegel ist vor allem für kranke und
       besonders schutzbedürftige Menschen ein regelrecht gefährlicher Ort“, sagt
       Henniges.
       
       Dennoch würden zum Beispiel Wöchnerinnen zwei Tage nach einem Kaiserschnitt
       aus dem Krankenhaus dorthin zurückgeschickt. Zwei Mitarbeiter aus dem
       medizinischen Bereich bestätigen das gegenüber der taz. Aus Angst vor
       Jobverlust wollen auch sie ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie
       berichten von einem Mann, der einen Tag, nachdem ihm ein Arm und ein Bein
       amputiert worden sei, aus dem Krankenhaus nach Tegel zurückgebracht wurde.
       
       ## Das Ankunftszentrum macht krank
       
       „Das Akuz macht krank“, sagt auch eine ehemalige Mitarbeiterin der
       Malteser, die bis Frühling als „Betreuerin“ in Tegel gearbeitet hat. Der
       Begriff sei irreführend, sagt sie, die Betreuer seien weniger zum Helfen da
       als zur Kontrolle, etwa ob in den Waben verbotenerweise Essen gehortet wird
       oder Tücher aufgehängt sind. Sie habe dies nicht mehr ausgehalten, sagt die
       Frau.
       
       Viele Bewohner würden mit der Zeit verzweifeln, lethargisch werden,
       aggressiv – oder dem Alkohol verfallen. „Es gibt wöchentlich Menschen, die
       mit Suizidgedanken ins Erste-Hilfe-Zelt kommen“, bestätigt einer der
       medizinischen Mitarbeiter. „Aber es wird nur gehandelt, wenn jemand akut
       suizidgefährdet ist.“
       
       Was den Wahnsinn komplett macht: Rund 260 Euro kostet ein Platz pro Tag,
       insgesamt kostet Tegel laut Landesamt für Flüchtlinge 35 Millionen Euro im
       Monat. Der größte Batzen geht für den Betrieb der beheizbaren Zelthallen
       drauf, dazu kommt das Personal für Kinderbetreuung und Freizeitgestaltung,
       für Sprachmittlung, Infomanagement, Soziale Dienste, Pflegestation und
       Erste Hilfe, Catering, Putzkräfte und mehr. Insgesamt arbeiten rund 1.200
       Menschen in drei Schichten in Tegel – inklusive der allgegenwärtige
       Security, die in buchstäblich jeder Ecke steht und über die es seit
       Bestehen der Unterkunft immer wieder Beschwerden von Bewohnern gab.
       
       Für das viele Geld könnte man die Menschen auch in guten Hotels
       unterbringen, merken Kritiker immer wieder an.
       
       ## Hausgemachte Probleme
       
       Stattdessen wird das Provisorium „Ankunftszentrum“ immer wieder verlängert
       und weiter ausgebaut, die Politik scheint keine andere Lösung zu finden.
       Auch eine Schule für die Flüchtlingskinder gibt es inzwischen – ein
       Tabubruch, der viel Kritik hervorgerufen hat, weil man sich damit erst
       einmal vom Ziel, die Flüchtlinge zu integrieren und sie am
       gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, verabschiedet hat.
       
       Sind die vielen Flüchtlinge der Grund für die Überlastung Berlins und
       vieler anderer Kommunen, hilft also nur noch: Grenzen dicht? Nicht wenige –
       Linke, Stadtsoziologen, Mieterbündnisse – sagen schon lange, das Problem
       sei hausgemacht und die „Flüchtlingskrise“, wie schon 2015/16, eigentlich
       eine „Wohnungskrise“. Ursache sei der fehlende soziale Wohnungsbau, den
       Bund und Länder seit Jahrzehnten vernachlässigt haben. Auch der Berliner
       Flüchtlingsrat fordert vom Senat seit Jahren einen massiven Ausbau von
       Sozialwohnungen.
       
       Den Menschen, die jetzt im Ankunftszentrum Tegel leben, hilft das alles
       nicht. Um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, fordern
       Flüchtlingsorganisationen freien Zugang zum abgeschotteten Gelände – um
       sich selbst ein Bild und dann Verbesserungsvorschläge machen zu können.
       „Tegel ist wie Fort Knox“, sagte Henniges von Moabit. „Wenn ein Auge von
       außen darauf schauen würde, wäre das schon mal eine gute Kontrolle.“
       
       3 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Notunterkunft-fuer-Ukrainerinnen/!5916638
   DIR [2] /Zustaende-in-Massen-Notunterkunft-Tegel/!6006159
   DIR [3] https://www.moabit-hilft.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR wochentaz
   DIR Unterbringung von Geflüchteten
   DIR Flughafen Tegel
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Social-Auswahl
   DIR Unterbringung von Geflüchteten
   DIR Flüchtlingspolitik
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Geflüchtete
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Geflüchtete
   DIR Unterbringung von Geflüchteten
   DIR Flüchtlinge
   DIR Notunterkunft
   DIR Containerdorf
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Hamburg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Geflüchtete in Berlin: Schuldenfalle Wohnheim
       
       Eine neue Gebührenverordnung für die Unterbringung von Geflüchteten soll
       die Verwaltung entlasten. Vom Berliner Flüchtlingsrat kommt massive Kritik.
       
   DIR Flüchtlingsverein von Politik genervt: „Moabit hilft“ verlässt Moabit
       
       Der Berliner Hilfsverein will nicht länger Mieter einer teuren
       Landesimmobilie sein und seine Arbeit künftig ohne physische Anlaufstelle
       fortführen.
       
   DIR Flüchtlingsunterkunft Berlin-Tegel: Sparen an den Mitarbeitern
       
       In Berlins größter Notunterkunft verliert ein Viertel der Mitarbeiter den
       Job. Nun dürfen sie sich erneut bewerben – aber zu schlechteren
       Bedingungen.
       
   DIR Zukunft der Notunterkunft in Berlin: Teures Tegel als gutes Geschäft
       
       Während die SPD die Massenunterkunft Tegel schließen will, möchte die CDU
       an ihr festhalten. Womöglich auch, weil die Messe Berlin gut damit
       verdient.
       
   DIR Geflüchtetenunterkunft in Lichtenberg: Zuflucht im Leerstand
       
       Das City Hotel Berlin East an der Landsberger Allee wird ab November zur
       Geflüchtetenunterkunft. In der Nachbarschaft herrscht Unmut darüber.
       
   DIR Flüchtlingscamp in Tegel: „Vernetzung hilft am besten gegen Isolation“
       
       Am Freitag findet ein Straßenfest für das Tegel-Camp statt. Für Aktivistin
       Hanna Schwarz geht es dabei um mehr als kurzfristige Unterstützung.
       
   DIR Flüchtlingsunterkunft in Lichtenberg: Mieten lohnt sich nicht
       
       In ein altes Hotel an der Landsberger Allee sollen bald Geflüchtete ziehen.
       Der Senat will nur mieten, dabei wäre ein Kauf der Gebäude günstiger.
       
   DIR Gewalt im Ankunftszentrum: Das System Flüchtlingslager
       
       Die Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen zum Angriff mutmaßlicher
       Islamisten auf kurdische Geflüchtete ein. Dieses Wegschauen ist kein
       Zufall.
       
   DIR Gewalt im Ankunftszentrum Tegel: IS-Freunde prügeln in Tegel? Egal!
       
       Bei einem Massenangriff auf Kurden im Ankunftszentrum Tegel sollen auch
       Sicherheitsleute dabei gewesen sein. Die Behörden wissen von nichts.
       
   DIR Massenunterkunft Tegel: Das Leiden ist gewollt
       
       Deutschlands größte Unterkunft für Geflüchtete in Berlin wird erweitert.
       Dabei sind die Zustände menschenunwürdig und das Lager gehört aufgelöst.
       
   DIR Flüchtlingunterkunft in Berlin: Wegen Überfüllung weiter offen
       
       Die Notunterkunft im ehemaligen Flughafen Tegel ist überfüllt und teuer.
       Die Sozialsenatorin will sie verkleinern. Die CDU bremst.
       
   DIR Schließung von Containerdorf in Köpenick: Zukunft ungewiss
       
       Berlins älteste Containerunterkunft für Geflüchtete wird dichtgemacht.
       Viele Bewohner*innen befürchten, ihr vertrautes Umfeld zu verlieren.
       
   DIR Zustände in Massen-Notunterkunft Tegel: „Ein Instrument der Abschreckung“
       
       Bei einem Fachgespräch sind sich Betroffene und Experten einig, dass die
       Zustände in der Massenunterkunft Tegel unhaltbar sind. Oder gar gewollt?
       
   DIR Geflüchtete ins Hamburger Nobelviertel: Zu schrecklich zum Leben
       
       Im gut betuchten Klein Flottbek will die Hamburger Sozialbehörde
       Geflüchtete unterbringen. Reiche Anwohner:innen und die FDP wollen das
       verhindern.