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       # taz.de -- „Überlandschreiberinnen“: Von Dingen, die nötig sind
       
       > Drei Schriftstellerinnen erzählen in den kommenden Wochen in der taz von
       > ihrem Alltag in Ostdeutschland. Den Auftakt macht Tina Pruschmann.
       
   IMG Bild: Der Johanneshof in Bockendorf und mit dem Rad unterwegs: Tina Pruschmann und Artëm Titeev
       
       Sachsen taz | Tina, you also need to speak to the bad guys!“ Artëm, mein
       Reisebegleiter, packt seine Fotoausrüstung zurück in die Fahrradtasche.
       Gerade haben wir uns von der freundlichen Frau Müller verabschiedet. Sie
       war uns aufgefallen, als sie sich ein Wortgefecht mit einem jungen Mann
       lieferte, der ein Plakat der Freien Sachsen vor ihrem Bioladen anbringen
       wollte. Es ist Anfang Juni, wenige Tage vor der EU- und Kommunalwahl. Die
       Plakate der neonazistischen Kleinstpartei hängen nahezu flächendeckend an
       den sächsischen Lichtmasten, aber zum ersten Mal bemerken wir Widerspruch.
       
       „No, I don’t!“, antworte ich Artëm. Seit Jahren dürfen die Höckes der
       Republik in feinfühligen Reportagen ihren völkischen Quark breittreten.
       Seit Jahren liegen deren Anhänger*innen auf der gesellschaftlichen
       Analysecouch. Seit Jahren gibt es nichts Neues unter der schwarzen Sonne.
       
       Begonnen hatte unsere Tour vier Tage zuvor. Den ganzen Wahlsommer lang
       werden wir unterwegs sein, wollen erfahren, was die Menschen abseits der
       Großstädte bewegt. In einem der legendären, wie unkomfortablen alten
       Zugwaggons der RE6 rollen wir von Leipzig aus Richtung Chemnitz. Das alte
       Eisen rüttelt uns ein sozialistisches Reisegefühl in die Glieder, man
       möchte eine Karo – die blauen Gauloises der DDR – am Zugfenster rauchen.
       Unser erstes Ziel heißt Frankenberg/Sachsenburg und liegt etwa eine
       Fahrradstunde von Chemnitz entfernt. Um genau zu sein, sind es an diesem
       Tag eineinhalb Stunden von Burgstädt, denn aufgrund einer Baustelle endet
       die Fahrt für Fahrgäste mit Rädern bereits dort.
       
       Wir treten aus dem Zug in die ersten Tropfen des vermeintlichen
       Starkregens, vor dem die Wetterapp warnt. Bevor wir uns auf die Räder
       schwingen, ziehe ich einen Regenschutz über meinen Rucksack und hoffe, dass
       eines der wichtigsten Utensilien, eine zusammengefaltete rote
       Pappschachtel, trocken bleibt. Artëm navigiert uns nahezu traumwandlerisch
       durch das Chemnitztal. Immer wieder bricht die Sonne hinter den schweren
       Wolken hervor. Die Luft schmeckt warm und erdig und der Plakatwahlkampf
       präsentiert sich in Teilen, als seien die Hakenkreuz-Kritzeleien von den
       Stromkästen als Wahlplakat geadelt an die Lichtmasten gewandert.
       
       In Frankenberg treffen wir den Historiker Mykola Borovyk, der für die Stadt
       mit dem Aufbau der Gedenkstätte KZ Sachsenburg betraut ist. Es ist eines
       der Projekte, dem die AfD mit Beendigung droht. Sie schreiben das nicht
       direkt in ihre Social-Media-Kacheln. Sie schreiben: „Keine weiteren
       Ideologieprojekte und vorhandene beenden.“ Wir sprechen über das
       Gedenkstättenkonzept. Borovyk betont, wie wichtig ihm die Arbeit mit
       Biografien ist. „Geschichte ist immer das Ergebnis von Entscheidungen“,
       sagt er und zeigt auf die leer stehende Zwirnerei, in der die
       Nationalsozialisten von 1933 bis 1937 eines ihrer frühen
       Konzentrationslager betrieben. „Die einen haben entschieden, Wachleute zu
       sein, andere Widerstand zu leisten, wieder andere, sich zu verstecken oder
       sich dem Regime anzupassen. Über die Biografien können wir mit Menschen
       über Entscheidung und Verantwortung sprechen.“
       
       ## Global denken, lokal handeln
       
       Nach einer Führung über das Gelände, zu dem neben der Fabrik, die
       Kommandantur, der Appellplatz und die Überreste der Kommandantenvilla
       zählen, baue ich zum ersten Mal meine Pappschachtel zusammen. Ein
       aufgemaltes Kreuz und ein Schlitz markieren sie als mobile Wahlbox. Zur
       Wahl stehen fünf Gesprächsthemen, die auf Kärtchen notiert sind. Sie
       heißen: Gehen oder Bleiben. Tradition oder Wandel. Jetzt oder Später.
       Besitzen oder Nutzen. Daheim oder Welt. Mykola Borovyk entscheidet sich
       schnell. „Jetzt“, sagt er. „Das Leben ist zu kurz und die Welt zu
       dynamisch, um zu warten.“ Was er sich für dieses Jetzt wünscht, ist die
       sichere Finanzierung der Gedenkstätte KZ Sachsenburg.
       
       Am nächsten Tag verlassen wir Sachsenburg in Richtung Hainichen. Der Weg
       führt an wogenden Getreidefeldern, Windrädern, grasenden Kühen vorbei. Ein
       verhangener Himmel droht noch immer mit Unwetter. In Bockendorf fahren wir
       auf der Suche nach einem Pausenbier Ringo und Christina in die Arme. Die
       beiden betreiben den Johanneshof, einen alten Dorfgasthof, den sie mit
       Musik, Tanz, Bildung beleben. Das Publikum aber kommt zumeist aus den
       Städten und weniger aus dem Ort. Dass ein Kulturangebot eher Touristen als
       Einheimische anzieht, sei in den großen Zentren auch so, erzählt Ringo. Er
       sieht aber noch eine andere Entwicklung: Das Musikmachen werde als etwas
       Elitäres wahrgenommen und das sei früher anders gewesen: „In Eulendorf zum
       Beispiel gab es bis in die 1950er Jahre zwei Musikkapellen und jeder war
       dabei: Lehrer, Maurer, Polizist.“
       
       Dass diese Tradition weggebrochen ist, führt er unter anderem darauf
       zurück, dass die DDR die Kirchen als Standorte der Kultur diskreditierte,
       die staatlich gelenkten Angebote aber wenig Zuspruch erfuhren. „Die
       Kartenkontingente, die die Brigaden zum Beispiel für das Chemnitzer Theater
       bekamen, blieben oft ungenutzt.“ Nach der Wende seien viele mit sich
       beschäftigt gewesen. Was die beiden sich wünschen, fragen wir noch, bevor
       wir wieder aufbrechen. „Dass die Leute fragen, wann ist das nächste Konzert
       bei euch.“ Den langen Atem dafür bringen sie mit. Kultur sei eine
       Pionierpflanze, davon ist Ringo überzeugt. Sie kann überall gedeihen. In
       meinem Wahlspiel zieht er „Ich oder Wir“ und notiert dazu: „Das Ich im Wir
       – Global denken, lokal handeln.“
       
       Einen Tag später entscheidet sich Frau Müller in Tharandt für die Karte
       „Jetzt oder Später“ und schreibt: „Es ist wichtig, Dinge anzupacken, wenn
       es nötig ist, nicht erst, wenn es mir passt.“ Und weil die Dinge jetzt
       nötig sind, kandidiert sie auf der Bürgerliste „Grün der Zeit“ für den
       Stadtrat. Nach ihrer Motivation gefragt, sagt sie, dass sie und ihren
       Mitstreiter*innen die Mehrheit nicht denen überlassen wollen, die die
       Klimakrise leugnen und Fremdenfeindlichkeit schüren.
       
       „Glauben Sie mir, ich habe dafür mit zwei Teenagern und einem kleinen Kind
       eigentlich keine Zeit“, sagt sie. Wenn aber die Jugend für die Zukunft
       demonstriert, will sie ihren Beitrag in der Lokalpolitik leisten.
       Geschichte ist immer ein Ergebnis von Entscheidungen, hatte Mykola Borovyk
       gesagt. Frau Müller wird weiter rechter Propaganda widersprechen, auch wenn
       die Stimmen für ein Stadtratsmandat diesmal nicht gereicht haben, Ringo und
       Christina die Pionierpflanze Kultur pflegen und auch der junge Mann auf der
       Leiter vor Müllers Bioladen hat eine Entscheidung getroffen. „Tina, you
       also need to speak to the bad guys!“, sage ich mir. Das Unwetter hingegen
       ist ausgeblieben.
       
       7 Jul 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tina Pruschmann
       
       ## TAGS
       
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