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       # taz.de -- Frankreich nach der Wahl: Chance auf Modernisierung
       
       > Vorwärts in die Sechste Republik? Noch ist Frankreich nicht verloren. Ein
       > Übergang in gutes Koalitionsregieren wäre ein gutes Zeichen.
       
   IMG Bild: Emmanuel Macron in präsidialer Haltung vor dem Elysée-Palast
       
       Frankreich fragt sich nach der Auflösung des Parlaments und im Blick auf
       die unsicheren Mehrheitsverhältnisse nach dem 7. Juli, ob es zurück in die
       Vierte oder vorwärts in die Sechste Republik steuert. Das von Charles de
       Gaulle 1958 für die aktuell Fünfte Republik (die Zählung beginnt 1792 mit
       dem Abtritt der Monarchie) gezimmerte institutionelle Gerüst, das ganz auf
       den Präsidenten und eine ihm geneigte Parlamentsmehrheit setzt, hält nicht
       mehr.
       
       Emmanuel Macron hatte schon seit seiner Wiederwahl keine absolute Mehrheit
       von 289 Sitzen mehr, nun aber ist seine Parteienallianz weit
       zurückgefallen. Und zwar ohne dass sich andere Parteien an ihre Stelle
       setzen und einen Premierminister stellen können, wie das bei der
       sogenannten (im Grunde für systemwidrig gehaltenen) „Cohabitation“ des
       sozialistischen Präsidenten Francois Mitterrand mit dem neogaullistischen
       Premier Jacques Chirac der Fall war (1986–1988) und erneut unter diesem als
       Präsidenten und dem sozialistischen Premier Lionel Jospin (1997–2002).
       
       Der Zwitter aus einem Präsidialsystem, das auf „Durchregieren“ aus ist, und
       einer parlamentarischen Demokratie, die in der Regel Koalitionen bilden
       muss, zeigt nun seine Schwäche. Da Le Pens Rassemblement National keine
       Mehrheit hat und der Präsident dem Premier sine spe Jordan Bardella keinen
       Auftrag zur Bildung einer Minderheitsregierung gibt, drängt sich das
       frankreichunübliche Szenario einer Koalitionsregierung der „Mitte“ auf,
       [1][die nicht nur RN, sondern auch Jean-Luc Mélenchons
       linksnationalistische Fraktion außen vor lässt].
       
       ## Grenzen der „präsidentiellen Monarchie“
       
       In französischen Wörterbüchern ist der Begriff Koalition (lateinisch
       Zusammenwirken) zwar verzeichnet, aber in der Politik seit 1958 verpönt.
       Doch nun steht er auf der Tagesordnung, als Allianz von Fraktionen, die
       sich in wesentlichen Fragen uneins sind und nun Kompromisse schließen
       müssen.
       
       Auch ein „technisches Kabinett“ nach italienischem Muster in der Ära Mario
       Draghis ist möglich. Voraussetzung für eine auf dieser Grundlage gebildete
       Regierung ist, dass sie ein wahrscheinliches Misstrauensvotum übersteht.
       Eine weitere Parlamentsauflösung ist bis Sommer 2025 von der Verfassung
       ausgeschlossen.
       
       An dieser Entwicklung zeigen sich die Grenzen der „präsidentiellen
       Monarchie“, wie man de Gaulles Konstruktion genannt hat und von der
       Mitterrand, ein Minister der Vorgängerrepublik, gesagt hat, sie hätte nicht
       seinen Wünschen entsprochen, würde ihm aber sehr gut passen. Nur wenn die
       Hegemonie des Elysée-Palastes über das Parlament und das „Hotel Matignon“,
       den Sitz des Premierministers, gewährleistet ist, funktioniert die Fünfte
       Republik nach dem Wunsch ihres Erfinders.
       
       Jetzt zeigt sich, welche Macht Parlament und Premier auch gegen den
       Präsidenten besitzen, der selbst in seinen außen- und
       sicherheitspolitischen Domänen nicht völlig frei walten und schalten kann.
       Der klägliche Absturz von „Jupiter“ Macron zum König Ohneland ist ein
       Beweis dafür.
       
       ## Macron: verzockt oder verrückt?
       
       De Gaulles Konstruktion war das Kontrastbild zur Vierten Republik, die nach
       1945 das Primat der Legislative festlegte und herausragende politische
       Figuren wie Pierre Mendès-France, Robert Schuman und Georges Bidault
       hervorbrachte, aber infolge der zersplitterten Parteiendemokratie mit 25
       Regierungen in 11 Jahren von großer Instabilität gekennzeichnet war. Der
       aus dem Ruder laufende Algerienkrieg, der Putsch der Generäle und der
       zweite Auftritt de Gaulles als Retter des Vaterlands setzten ihr 1958 ein
       Ende.
       
       Viele Beobachter malen nun eine neue Phase der Instabilität an die Wand.
       Sie übersehen indes, dass die aktuelle Transition endlich die
       Modernisierung der Republik bringen kann, die mit der [2][Erosion des
       Rechts-Links-Dualismus] und der Bildung eines liberal-libertären Pols im
       Zentrum durch Macron angelegt war, aber unvollendet blieb.
       
       Ein Übergang in gutes Koalitionsregieren angesichts der drängenden
       Herausforderungen wäre da ein gutes Zeichen. Die meisten Franzosen und
       Französinnen wünschen sich das, die politischen Eliten weniger.
       
       Macrons überstürzte und mit niemandem zuvor beratene Parlamentsauflösung
       gilt den meisten Beobachtern im In- und Ausland als Beweis dafür, dass der
       Präsident sich „verzockt“ habe oder verrückt geworden sei. Sein
       nonchalanter Auftritt am ersten Wahlsonntag hat ein Übriges getan. Die
       anderen Parteien (und auch seine eigene) haben daraus eine neue
       republikanische Volksfront gegen den Le Pen-Klan gemacht, was sicher der
       bestmögliche Reflex ist.
       
       Aber die französische Republik kann nicht von der permanenten Abwehr der
       Ultrarechten leben, die wie 1934 ff. zurückgedrängt werden – um dann, wie
       1940 ff. im Kollaborationsregime Vichy, womöglich umso vehementer zur Macht
       zu streben. Dazu ist eine grundlegende Reform des politischen Systems
       erforderlich, die weder 1945 noch 1958 gelang.
       
       ## Frei atmen, allen Erwartungen zum Trotz
       
       Noch ist Frankreich nicht verloren. Es müssen sich nun die Kräfte bündeln,
       die eine echte republikanische Front bilden und Jahrzehnte aufgeschobene
       Reformen im Konsens angehen. Dazu gehört das unerfüllt gebliebene
       Versprechen des „gemeinsam Regierens“, die Aufwertung der von Macron
       eingerichteten Instrumente der Bürgerbeteiligung und die Abschwächung der
       etatistischen Bürokratie.
       
       Die Gefahr einer völkisch-autoritären Wende ist viel zu groß, auch für ganz
       Europa, um sich jetzt an einem anfangs überschätzten, nun ramponierten
       Pseudo-Monarchen abzuarbeiten und strukturelle Defekte zu personalisieren.
       
       Wenn Marine Le Pen erneut die Übernahme der Macht misslingt und sie, genau
       wie [3][der Quälgeist der Linken Jean-Luc Mélenchon], aufs Altenteil
       abgeschoben wird, kann man in Frankreich allen Erwartungen zum Trotz wieder
       freier atmen. Man könnte sogar de Gaulles arroganten Spruch nach dem Mai
       1968 herumdrehen: La réforme, oui; la chienlit, non. Reformen ja, das Chaos
       nein.
       
       11 Jul 2024
       
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