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       # taz.de -- Frankreich nach der Wahl: Bedrohte Vielfalt
       
       > Frankreich ist zuletzt nach rechts gedriftet, Angriffe auf
       > Migrant:innen und Jüd:innen nehmen zu. Auch die Kulturszene leidet.
       > Eine Spurensuche.
       
   IMG Bild: Der Place du Banat liegt in einem Sozialbauviertel in Rennes. Hier leben vor allem Maghrebiner:innen
       
       Der Place du Banat liegt in einer neuen Sozialbausiedlung am Rande von
       Rennes. Die Spielplätze sind am Nachmittag voller Kinder, auf den Wegen zur
       nahen Metrostation laufen schwarze Menschen, Maghrebiner, Frauen mit
       Kopftuch. Wie überall in solchen Vierteln in Frankreich sieht man hier auch
       jetzt tagsüber Trupps der Nationalpolizei CRS, die in Mannschaftsstärke
       junge Männer umzingeln, sie durchsuchen, abgeschirmt von Kollegen mit
       großen, weißen Pfefferspray-Kartuschen in den Händen, die misstrauisch die
       Umgebung beobachten.
       
       Das Bild solcher Kontrollen hat sich im kollektiven Bewusstsein Frankreichs
       festgesetzt: Die Banlieues mit ihrem hohen Migrantenanteil gelten als
       gefährliche Orte voller Delinquenz, womöglich Brutstätten von Extremismus,
       die die Härte des Staates verlangen.
       
       Keine Partei befeuert diese Vorstellung stärker als der Rassemblement
       National (RN), keine bekam bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag
       so viele Stimmen. [1][Und auch wenn eine RN-Regierungsbeteiligung derzeit
       ausgeschlossen scheint], verschiebt sich durch sein Erstarken die Stimmung
       im Land weiter nach rechts.
       
       Im Erdgeschoss eines der Hochhäuser hat Mohamed Iqbal Zaidouni einen
       Gemeinschaftsraum angemietet, hier gibt er Unterricht – Arabisch, Kultur,
       Mathematik, für Jugendliche im Viertel. Es ist ein kalter Julitag, Zaidouni
       trägt eine dicke braune Fleecejacke. Er ist Präsident der islamischen
       Gemeinden in der Bretagne, Krankenhaus-Imam, Gefängnis-Imam,
       Mathe-Professor an der Universität von Rennes.
       
       Er bringt Tee in einer ziselierten silbernen Kanne, beim Einschenken zieht
       er den Arm weit nach oben, dann legt er Kekse neben den Becher, setzt sich,
       schaut durch seine Brillengläser und sagt: „Was willst Du jetzt hören?“
       
       Wie es den Muslimen damit geht, dass eine Anti-Islam-Partei die meisten
       Stimmen bekommen hat.
       
       „Es geht mir gut, ich atme durch.“ Er atmet vernehmlich und breitet die
       Arme aus. „Und schau, ich empfange dich mit offenen Armen.“
       
       Alles gut also?
       
       Frankreich sei „kein Land des Rassismus, sondern der Aufnahme“, sagt er
       dann. Es sei ein „kostbarer Motor Europas“. Wer dieses Land den
       Rechtsextremen überlasse, „zerstört es und zerstört Europa“. Das hätten
       viele verstanden und im zweiten Wahlgang „republikanisch“ gewählt.
       
       Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Inflation – „die Menschen
       haben Angst, Medien und Populisten spielen damit“. Viele hätten das
       Vertrauen in die Politiker verloren. Das Wahlergebnis sieht er in erster
       Linie als eine Absage an Macron.
       
       Sein Telefon klingelt dauernd, er geht jedesmal ran, läuft umher und bringt
       wie zur Entschuldigung auf Zahnstocher gespießte Pralinen. „Alle reden
       immer soviel“, meint er dann.
       
       Natürlich hätten auch die Muslime Angst. Ihre Dämonisierung habe schon zu
       IS-Zeiten zugenommen, sagt er, die Attentate seien allen Muslimen in die
       Schuhe geschoben worden. „Aber wer sind die Opfer des IS? Muslime!“ Was die
       Terroristen wollten, sei „exakt das Gegenteil dessen, was wir hier wollen“.
       [2][Nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel,]
       habe die Stigmatisierung zugenommen.
       
       Die einzige Partei, die dieses Gefühl durchbrochen habe, sei die linke
       [3][La France Insoumise] von Jean-Luc Mélenchon. „Er hat das Thema
       angesprochen und benannt, das alle Muslime umtreibt: den Genozid in Gaza,
       der gerade stattfindet. Das findet natürlich ein Echo bei den Moslems,“
       sagt Zaiduni. Alle anderen Parteien hätten „Angst vor der Lobby“ und würden
       deshalb das Thema Gaza nicht anschneiden.
       
       Er sei mit 22 aus Marrakesch nach Rennes gekommen, um in Mathematik zu
       promovieren. „Ich habe die Sprache, die Kultur Frankreichs gelernt, ich
       habe es lieben gelernt, hier geheiratet, hier meine Kinder groß gezogen“,
       sagt er. Integration sei „eine Frage des Geistes“.
       
       Das sei die Art von Migration, die er sich vorstelle. „Nicht die
       unregulierte, bei der die Menschen im Meer ertrinken.“ Diese Migration,
       glaubt er, finde bei der Mehrheit der Franzosen Zustimmung. Auch der Islam
       passe gut zu Frankreich. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist
       doch exakt das, was der Islam will.“
       
       Zaidouni ist auch im Vorstand der Laizistischen Gesellschaft der Bretagne.
       Laizismus ist eines der Schlagworte, mit denen Konservative und
       Rechsextreme gegen eine vermeintliche Islamisierung Frankreichs agitieren.
       Wie geht das zusammen? Er läuft umher, bevor er antwortet. „Laizismus ist
       wie ein rohes Stück Gold, aus dem der eine Schmuck macht und der andere ein
       Messer“, sagt er dann. Laizismus kann „Toleranz, Respekt und Freiheit
       bedeuten oder Schikane, Dominanz und Unterwerfung, wenn er missbraucht
       wird.“
       
       Nun komme es darauf an, dass die Politik endlich Antworten auf die
       bestehenden Probleme finde, vor allem die Inflation, meint er. „Sonst geht
       es wieder gegen die Migranten.“
       
       Die Bretonen wählen traditionell Mitte-links, der Anteil der Menschen mit
       Migrationshintergrund ist vergleichsweise niedrig. Die Hauptstadt Rennes
       gilt dem Kommunalverband Eurocities als „europaweit führend“ bei
       progessiven Konzepten zur Aufnahme von Flüchtlingen und Migrant:innen.
       Trotzdem konnte der RN auch hier seinen Stimmenanteil gegenüber den
       vorherigen Wahlen etwa verdoppeln, in der ersten Runde der Parlamentswahlen
       auf rund 29 Prozent. Wie erklärt sich dieser Wandel – und welche Folgen hat
       er?
       
       ## Die Hemmschwelle für Gewalt sinkt
       
       Unter linken Aktivist:innen ist eine der Antworten auf diese Frage,
       dass Rechtsextreme sich bestärkt fühlten und deshalb ihre Hemmschwelle für
       Gewalt sinke. Gezeigt habe sich dies unter anderem in der Kleinstadt
       Lannion an der Kanalküste. Nach dem ersten Wahlgang verwüsteten Unbekannte
       hier an zwei Nächten in Folge ein Agrarprojekt von Sans Papiers, also
       Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Beteiligte wurden auf der Straße
       beschimpft und bedroht.
       
       An diesem Julitag ziehen schwere Wolken vom Atlantik herüber, es regnet
       ohne Unterlass in Lannion, nur wenige Touristen durchstreifen den
       mittelalterlichen Stadtkern und suchen sich trockene Plätze in den Cafés,
       die Crêpes mit Salzbutter verkaufen. In einem Außenbezirk liegt eine
       ehemalige Gärtnerei: Vier turnhallengroße Gewächshäuser, die im vergangenen
       Jahr [4][das antirassistische Kollektiv A4] übernommen hat.
       
       Der Initiator heißt Idriss, er stammt aus dem Sudan, ist Anfang 30, kam
       2016 nach Lannion und arbeitete, wie viele andere Geflüchtete, mangels
       Alternativen, ohne Arbeitsvertrag in der Landwirtschaft.
       „Scheißbedingungen“, sagt er dazu. „Wenn ich die französischen Bauern
       angezeigt hätte, hätten die Behörden mich abgeschoben.“
       
       Er war frustriert, wollte nach Großbritannien, hatte dann aber eine Idee,
       die er 2020 auf einem Camp antirassistischer Gruppen in Nantes vorstellte:
       eine Art Berufsschule für landwirtschaftliche Tätigkeiten, offen für
       Sans-Papiers und Menschen mit unsicherem Aufenthalt, deren Abschlüsse
       sowohl nach einer Abschiebung nützlich sein können, als auch um beim Antrag
       auf einen französischen Aufenthaltstitel.
       
       Seit 2023 baut das Kollektiv hier Tomaten, Rote Beete, Ingwer und anderes
       Gemüse an. Sie vermitteln Schlafpätze an Sans-Papiers und laden die
       Bewohner:innen des nahen Flüchtlingsheimes ein, mitzuarbeiten. Auch
       eine Rechtsberatung soll es demnächst geben.
       
       Im Flüchtlingsheim gehe es zu wie in einem Gefängnis, meint Idriss: Kein
       Recht zu arbeiten, reduzierte Sozalleistungen. „Nur schlafen, essen und
       Schluss.“ A4 wolle dies durchbrechen: „Wir wollen hier Begegnungen
       schaffen, die Menschen sollen Französisch lernen, ihre Fähigkeiten
       entwickeln.“
       
       Im Februar hätten Unbekannte das erste Mal Möbel aus den Hallen auf eine
       benachbarte Brache gebracht und angezündet, berichtet Idriss. „Sonst gab es
       bisher keine Angriffe.“ Doch am Dienstag nach dem ersten Wahlgang sei er
       morgens in die Gärtnerei gekommen und habe die Küche und die Felder
       verwüstet vorgefunden. „Wir haben Anzeige erstattet, die Polizei hat gut
       reagiert,“ sagt er.
       
       Sie empfahl, Kameras anzuschaffen, bot Patrouillen an. Zwei Tage später war
       es das gleiche Bild: Wieder waren in der Nacht Unbekannte eingedrungen,
       hätten die Gärtnerei verwüstet, Messer in die Tische gerammt, eine
       Ausstellung zerstört, Fahrräder gestohlen.
       
       A4 hat eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um die Schäden bezahlen zu
       können. Doch bei der Verwüstung blieb es nicht. Eine kamerunische Frau sei
       in jenen Tagen in der Nähe des Projekts mit Affenlauten beleidigt worden.
       Idriss selbst berichtet davon, dass ein Auto an einem nahe gelegenen
       Verkehrskreisel auf ihn zugefahren sei. „Die haben mich angebrüllt: 'Was
       wollt ihr hier? Haut ab nach Hause“.
       
       Weil die Kennzeichen abmontiert waren, glaubt er, dass der Übergriff
       geplant war. „Sie hatten es wohl auf mich abgesehen, weil ich als
       Verantwortlicher für das Projekt bekannt bin. Das macht einem schon Angst.“
       
       Es habe sich einiges verändert, seitdem der RN stärker wurde. Zu den
       Kundgebungen kämen immer weniger Menschen. „Und die, die gegen die
       Migration sind, sagen das nun immer offener.“ Die Aktivist:innen
       müssten sich besser organisieren. „Es gibt viel zu tun, man darf nicht
       schlafen.“
       
       Dass viele französische Linke ihm sagten, sie würden nicht wählen, weil das
       nichts bringe, „finde ich total unlogisch“, sagt Idriss. „Es läuft ja alles
       über die Wahlen, wer ein Aktivist sein will, der muss doch wählen gehen.“
       Das Erstarken des RN müsse auch die Französ:innen umtreiben, glaubt er.
       „Das geht ja nicht nur gegen uns, der RN ist ja zum Beispiel auch gegen die
       Frauenrechte.“
       
       ## Auch Jüd:innen werden verstärkt bedroht
       
       Es sind nicht nur die Rechte der Frauen bedroht. Eine halbe Million
       Jüd:innen leben in Frankreich, mehr als in jedem anderen europäischen
       Land. Laut dem jüdischen Dachverbands Crif sind die antisemitischen
       Vorfälle in Frankreich nach dem 7. Oktober „explodiert“, der Verband
       registrierte einen Zuwachs um 1.000 Prozent.
       
       RN-Chefin Marine Le Pen versucht, sich als Anwältin der Jüd:innen zu
       geben, ihre Partei als Kämpfer gegen den Antisemitismus zu zeigen. Ihre
       Auftritte beginnt sie bisweilen mit dem Satz: „Ich grüße die Christen und
       die Juden Frankreichs“.
       
       Vor der Wahl sagte Israels Diaspora-Minister Amichai Chikli, es wäre
       „hervorragend“, wenn Le Pen an die Macht käme. Und auch [5][das berühmte
       Nazijäger-Paar Serge und Beate Klarsfeld] äußerte sich so. Gleichzeitig ist
       beim RN ständig von klar antisemitischen Ideen zu hören, wie dem „großen
       Austausch“ oder der Notwendigkeit, gegen die „globalistische Elite“ zu
       kämpfen.
       
       Seit 2002 gibt es in Rennes eine Synagoge. Sie liegt in einem Wohngebiet
       weit außerhalb der Innenstadt. Auch während der Öffnungszeiten sind die
       Fensterr verrammelt, Kameras filmen die Außenflächen, vor der Tür sind
       Gitter. Einige Mitglieder der Gemeinde betreiben Sholem – „Frieden“ – einen
       Verein für jiddische Kultur.
       
       Dominique Ertel, eine ältere Dame mit wallendem silbernen Haar, ist die
       Präsidentin. Es sei „sicher, dass die Lage der Jüd:innen problematisch
       ist, viele sind verunsichert, und der Antisemitismus nimmt zu“, meint sie.
       Doch es gebe sehr unterschiedliche politische Positionen innerhalb der
       jüdischen Gemeinde. „Ich habe keine Ahnung, was die Klarsfelds geritten
       hat, sich so zu positionieren,“ sagt sie. Und viele Jüd:innen seien den
       Klarsfelds in ihrer Hinwendung zum RN gefolgt.
       
       Sie selbst sei „natürlich froh, dass die extreme Rechte nicht gewonnen
       hat“, sagt Ertel. Sie habe Angst vor einem Sieg Le Pens gehabt, auch wenn
       diese versuche, sich „als Freundin der jüdischen Community darzustellen und
       sie gegen die Migranten zu benutzen. Aber wir wissen sehr genau, wofür die
       extreme Rechte steht.“ Gleichzeitig hoffe sie, dass sich innerhalb der
       Linken nicht Jean-Luc Mélenchon durchsetze und eine führende Rolle bekomme.
       
       Der 7. Oktober sei für viele Jüd:innen in Frankreich ein
       traumatisierendes Ereignis gewesen, sagt Ertel. „Man fühlte sich wie 80
       Jahre zuvor, hatte den Eindruck, isoliert zu sein.“ Sehr schnell habe sich
       der Diskurs verändert. Man habe nicht über die Massaker sprechen können,
       ohne als anti-palästinensisch zu gelten. „Ich habe mich vorher nie als
       Jüdin stigmatisiert gefühlt. Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs ist das
       anders.“
       
       Ertel beklagt eine tiefe Polarisierung. Die Linke habe versagt, eine
       Haltung zu finden, die das Leid von Israelis und Palästinenser:innen
       angemessen berücksichtige. Man war entweder für die israelischen Geiseln
       oder für die Bewohner:innen von Gaza, „niemand brachte es fertig, die
       Dramen beider Seiten zu benennen. So haben sich die Jüd:innen verraten
       gefühlt,“ sagt Ertel. Der einzige, der es vielleicht geschafft habe, eine
       Position des Ausgleichs zu finden, sei der Sozialdemokrat Raphaël
       Glucksmann.
       
       Die Lage sei nun vertrackt. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was jetzt
       passieren wird.“ Sie hoffe, dass das linke Bündnis NFP die soziale und
       ökologische Situation verbessern könne, und „diese Linke zu ihren alten
       Werten der Solidarität“ zurückfinden werde.
       
       ## Der Staat hat sich schon lange von eigenen Kulturangeboten verabschiedet
       
       Das hofft auch Bertrand Segalen. Der Theatermacher stammt aus Rennes, vor
       zwei Jahrzehnten zog er ins Umland. „Als ich kam, gab es in meinem Dorf
       drei Bars, ein Restaurant und eine Post. Heute ist noch eine Bar übrig,“
       sagt er. Aber es gibt das [6][Collectif Mobil Casbah], ein Netzwerk
       alternativer Kulturprojekte, das Segalen und andere in der Region aufgebaut
       haben: Kleinkunst, Clownerie, Akrobatik, Musik, das Kollektiv veranstaltet
       Low-Budget-Shows auch da, wo es sonst keine Kulturangebote gibt.
       
       237 der 587 Stimmen in seinem Dorf gingen diesmal an den RN – weit mehr als
       je zuvor. „Dabei gibt es dort nur einen einzigen Marokkaner und sonst nur
       Weiße“, sagt Segalen. Es sei eine Mischung aus Angst, das alles sich ändert
       und einem „Gefühl des Verlassenseins“: Viele ziehen in die Städte, nur
       wenige Junge bleiben mit den Alten zurück. Viele seiner älteren
       Nachbar:innen würden das Ausland nur aus dem Fernsehen kennen, eine
       Fahrt in die 25 Kilometer entfernte Kreisstadt „ist für die schon eine
       Reise“.
       
       Nachdem der RN in Segalens Bezirk im ersten Wahlgang die meisten Stimmen
       bekam, machte der Theatermann Wahlkampf für die NFP, ging mit Flugblättern
       von Tür zu Tür. „Meine Nachbarn sagten: ja, wir haben hier noch keine
       Probleme, aber wir wollen nicht, dass das, was wir im Fernsehen sehen,
       hierher kommt.“
       
       Es seien vor allem die privaten Medien des Milliardärs Vincent Bolloré, die
       – ähnlich wie Fox News in den USA – permanent und absichtsvoll
       angsteinflößende Schreckensnachrichten aus den großen Städten verbreiteten,
       sagt Segalen.
       
       Das Fernsehen gibt es schon lang. Warum aber hat sich die Stimmung jüngst
       so verändert?
       
       ## Schwierigkeiten für Kulturschaffende
       
       Segalen glaubt an eine „Offensive“, mit der Bolloré diesmal gezielt Le Pen
       unterstützt habe. Das sehen viele in Frankreich so. Doch schon viele Jahre
       zuvor hätten Konservative Positionen des RN zumindest teilweise
       aufgegriffen und so den Eindruck erweckt, dass diese legitim seien. „Das
       ging schon mit Chirac los, der gesagt hat, dass es ‚stinkt und lärmt‘, wenn
       Migranten als Nachbarn einziehen. Und das zog sich so durch, bis heute, bis
       Macron,“ sagt Segalen. Dazu komme die Inflation, die trotz guter
       Arbeitsmarktzahlen die Angst vor Verarmung schüre.
       
       Für Kulturschaffende sei die Entwicklung bedrohlich. Dort, wo Projekte wie
       seine Mobil Casbah ihre Shows und Festivals veranstalten, habe sich der
       Staat schon lange mit eigenen Kulturangeboten verabschiedet. Die
       verbliebene freie Kulturszene sei auf Subventionen angewiesen. Doch dafür
       hätten sich die Bedingungen verschlechtert.
       
       2022 führte Macron den Vertrag über republikanisches Engagement (CER) ein.
       Er soll Empfänger:innen staatlicher Förderung stärker auf
       „republikanische Werte“ verpflichten. Sieben Punkte sind darin genannt,
       darunter „Brüderlichkeit und die Verhinderung von Gewalt“. Gedacht war der
       CER dazu, Islamisten und Separatisten den Geldhahn zuzudrehen.
       
       Doch was etwa als Missachtung der „Symbole der Republik“ gilt, können die
       vom Innenminister eingesetzten regionalen Präfekten nach eigenen Ermessen
       entscheiden. „Das kann heute schon fast nach Belieben ausgelegt werden,“
       sagt Segalen.
       
       Im September 2022 etwa hatte Jean-Marie Girier, der macronistische Präfekt
       von Poitiers, der NGO Alternatiba eine schon zugesagte Förderung von 15.000
       Euro für ein Festival wieder entziehen lassen, weil dort ein Workshop zu
       „zivilem Ungehorsam“ angeboten worden war. Vor Gericht unterlag Girier
       allerdings später. Doch in den Händen des RN, glaubt Segalen, bietet der
       CER weite Möglichkeiten, um unliebsame Projekte ausbluten zu lassen.
       
       Der RN verfolge „extrem liberale Ideen“ von weniger Staat und demnach auch
       von weniger Subventionen. Kultur akzeptiere er nur, wenn sie „selbst
       rechtsextrem oder traditionalistisch“ sei, sagt Segalen. „Für Innovatives
       haben sie keinen Sinn.“ Dort, wo er lokal regiere, „sucht der RN die Bücher
       in den Bibliotheken aus“ oder feiere das „Ferkelfest“: Ein Dorffest mit
       Spanferkel, „weil es angeblich zu viele Muslime gibt, die Schweinefleisch
       verbieten wollen. Das ist die Art von Kultur, die sie wollen.“
       
       ## Omnipräsente Polizei
       
       Auch die allgemeine Stimmung habe sich verändert. Kurz nachdem Polizisten
       im Juni 2023 in Nanterre den jungen Nahel Merzouk töteten, habe Segalens
       Kollektiv die Bar bei einem städtischen Kulturfest gemacht. In einem
       Wandbild waren die Buchstaben „ACAB“ zu erkennen – die Abkürzung für „All
       cops are bastards“.
       
       Eine rechte Lokalpolitikerin machte ein Foto, landesweit griffen Medien die
       Sache auf, der Präfekt zeigte die Bar-Crew wegen Aufrufs zu Gewalt an, der
       sozialdemokratische Bürgermeister distanzierte sich. „Das wäre früher nicht
       so gelaufen“, glaubt Segalen. „Alle sind den Rechtsextremen
       hinterhergerannt.“
       
       [7][Überhaupt, die Polizei.] Unter Macron sei sie immer stärker aufgerüstet
       worden, gehe mit schwerer Gewalt gegen Demonstranten vor, sei
       „hyperpräsent“. Diese neue Sicherheitsdoktrin sei umso gefährlicher, wenn
       es eines Tages einen rechtsextremen Innenminister gäbe.
       
       Immerhin: Im zweiten Wahlgang hat in seinem Wahlbezirk die Kandidatin des
       NFP gewonnen. „Mal sehen, was jetzt passiert“, sagt er.
       
       12 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Frankreich-nach-der-Wahl/!6019771
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   DIR [6] https://www.mobilcasbah.fr/
   DIR [7] /Journalist-ueber-die-franzoesische-Polizei/!5944686
       
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