URI: 
       # taz.de -- Rechte in Sachsen-Anhalt: „Die Demokratie ist in Gefahr “
       
       > Markus Nierth war Ortsbürgermeister von Tröglitz und trat 2015 wegen
       > Anfeindungen zurück. Ein Gespräch über gefährdete Demokraten im
       > ländlichen Raum.
       
   IMG Bild: Markus Nierth im Jahr 2015 nach einem Brandanschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim in Tröglitz
       
       taz: Herr Nierth, im März 2015 wollten Rechtsextreme vor Ihrem Wohnhaus
       protestieren, weil im Dorf Flüchtlinge aufgenommen werden sollten. Da der
       Landkreis es nicht vermochte, Sie und Ihre Familie ausreichend zu schützen,
       sind Sie als ehrenamtlicher Ortsbürgermeister zurückgetreten. Inzwischen
       haben sich nach den Kommunalwahlen im Juni in vielen Landkreisen die neuen
       Stadt- und Gemeinderäte und Kreistage konstituiert. Was raten Sie
       Kommunalpolitikern, die wegen ihrer Arbeit bedroht werden?
       
       Markus Nierth: Erstens unbedingt die Bedrohung öffentlich zu machen, die
       Täter nach Möglichkeit zu benennen und auch die eigenen Emotionen, die
       Ängste, zu beschreiben und nicht den Coolen zu spielen. In der medialen
       Aufregung wird oft übersehen, was diese Bedrohungen und Übergriffe mit den
       Familien, mit Ehepartnern und Kindern machen. Erst dadurch entsteht auch
       menschliche Anteilnahme, hoffentlich auch bei der schweigenden Mitte.
       
       taz: Was noch?
       
       Nierth: Verbündete suchen und sich mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren
       vor Ort vernetzen, um – hoffentlich – gemeinschaftlichen Schutz zu
       bekommen. Sonst wird man schnell furchtbar einsam mit all seinen Ängsten.
       Möglichst breiter Widerstand nimmt den Rechten die Illusion, einen
       angeblichen Volkswillen auszuführen.
       
       taz: Die Bedrohung von Kommunalpolitikern hat seit Ihrem Rücktritt noch
       deutlich zugenommen, nach einer aktuellen Studie sind fast zwei Drittel
       aller Bürgermeister und Kommunalpolitiker regelmäßig Anfeindungen und
       Attacken ausgesetzt. Hat sich trotzdem irgendetwas verbessert? 
       
       Nierth: Nach meinem Rücktritt im März 2015 wurden ohne Zweifel einige
       gesetzliche Regelungen eingeführt. So hat das Gesetz gegen
       Hasskriminalität, das von der Großen Koalition unter Angela Merkel 2020 in
       den Bundestag eingebracht wurde, [1][mit den Geschehnissen in Tröglitz] zu
       tun. Dass Aufmärsche vor Wohnhäusern, wie damals bei mir, verboten sind,
       auch. Und die Polizei ist wesentlich sensibler geworden und verfolgt viel
       schneller Hasskriminalität.
       
       taz: Und was hat sich nicht geändert? 
       
       Nierth: Die reflexartigen Formeln mancher Politiker sind gleich geblieben,
       etwa dass man solche Taten verabscheut, dass man mit der ganzen Härte des
       Gesetzes durchgreift und so weiter. Diese Worte wirken auf die Betroffen
       längst nicht mehr beruhigend, weil nichts daraus folgt. Und ich meine dabei
       nicht nur Politiker. Dass [2][in Walthershausen in Thüringen] im Februar
       das Haus eines SPD-Politikers und auch sein Auto angezündet wurden, zeigt,
       dass die Verrohung wesentlich weiter fortgeschritten ist.
       
       taz: Woran liegt das? 
       
       Nierth: Ich frage mich selbst, wie es sein kann, dass ich damals offenbar
       auch einer Illusionsblase aufgesessen bin, die mir dann um die Ohren
       geflogen ist. Ich hielt mich für einen angesehenen, anerkannten
       Ortsbürgermeister. Und plötzlich wagt sich ein kleiner motzender Teil aus
       den Löchern, der sich vorher nie eingebracht hat, und übernimmt die
       Stimmungshoheit und will, angeführt von der NPD, vor unserm Haus
       demonstrieren. Das ist die Lehre – wir müssen um Himmels Willen aufpassen,
       dass die Stimmungshoheit nicht übernommen wird.
       
       taz: Ist das nicht schon im ostdeutschen Raum in vielen Orten Realität? 
       
       Nierth: Das stimmt leider. Dort werden [3][die wenigen, die sich
       widersetzen, von den Rechten bedroht.] Sie werden isoliert, diffamiert und
       wirtschaftlich geschädigt mit dem Ziel, sie schließlich zu vertreiben. Die
       Demokratie ist damit in größter Gefahr. Und Politiker können auch nur dann
       etwas ausrichten, wenn es genug Menschen gibt, die die Demokratie vor Ort
       verteidigen. Das ist der Knackpunkt, um den ich mir Sorgen mache.
       
       taz: Haben die Demonstrationen [4][gegen die AfD Anfang des Jahres] nichts
       geändert? 
       
       Nierth: Doch! Als Bernd Höcke 2019 nach Zeitz kam, haben wir eine Demo
       angemeldet, da kamen 30, 40 Leute. In diesem Jahr im März waren wir 350
       Leute auf dem Altmarkt in Zeitz, und als die Wutbauern mit ihren Traktoren
       und Hupen kamen, um zu stören, da strömten die mittelalten, eher
       bürgerlichen Leute auf die Straße und haben den rechten Krakeelern den Weg
       versperrt. Das hat mir Mut gemacht. Einige Leute sind inzwischen stärker
       bereit aufzustehen. Wie lange das hält, weiß ich allerdings nicht.
       
       taz: Was sind das für Leute, die heute für die AfD trommeln? 
       
       Nierth: Ich habe gute Bekannte, die haben im Herbst 1989 gegen die SED
       demonstriert, die laufen jetzt bei den Nazis mit. Manche haben die
       [5][„Coronadiktatur“] nicht verkraftet. Das Erschreckende ist, dass sich
       heute alte DDR-Funktionäre als Revolutionäre 2.0 aufspielen, Stasi-Leute,
       Offiziere.
       
       Sie schwingen Reden und erklären den Leuten, wie die wahre Demokratie
       auszusehen hat, und schwafeln von Polizeiwillkür und eingeschränkter
       Meinungsfreiheit. Die haben auch viel Verständnis für Putin. Dass das die
       obersten Hetzer sind, kann ich für Zeitz sehr gut beurteilen. Und sie
       sprechen Leute an, die die Revolution damals verpasst haben. Das ist wie
       ein nachgeholter psychologischer Prozess, und der hat Folgen.
       
       taz: Welche Folgen? 
       
       Nierth: Diese Leute rennen den Neurechten hinterher, weil es eben auch
       bequem ist. Sie agieren wie eine neureligiöse Bewegung. Sie missionieren,
       es gibt religiöse Glücksmomente, es gibt Dogmen. Und es entlastet. Denn es
       gibt bei den Anhängern keine Selbstreflexion, kein Nachdenken und keine
       eigene Rolle. Alle Probleme werden auf „die da oben“ abgewälzt. Es gibt
       keine Diskussion. Dabei ist Diskussionsfähigkeit der Schlüssel für ein
       mündiges Bürgertum.
       
       taz: Was bedeutet das alles für Menschen, die sich jetzt in der
       Kommunalpolitik engagieren wollen? 
       
       Nierth: Man muss Menschen ermutigen, sich zu entscheiden. Wollen sie ihr
       Umfeld und ihre eigene Zukunft mitgestalten? Oder wollen sie sich dem
       stumpfen Frust hingeben? Diese Ermutigung scheint inzwischen besser zu
       gelingen. Denn viele Menschen ahnen, dass etwas von ihnen abhängt. Das
       macht Hoffnung.
       
       25 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ex-Buergermeister-von-Troeglitz-ueber-AfD/!5450893
   DIR [2] /Nach-Protest-gegen-rechts-in-Thueringen/!5993201
   DIR [3] /Rechte-Jugend-in-Ostdeutschland/!6015187
   DIR [4] /Demos-gegen-rechts/!5994464
   DIR [5] /Coronaskeptiker-in-Berlin/!5729713
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
       
       ## TAGS
       
   DIR Tröglitz
   DIR Rechtsextremismus
   DIR NPD
   DIR Kommunalpolitik
   DIR Schwerpunkt Ostdeutschland
   DIR Social-Auswahl
   DIR wochentaz
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Zivilgesellschaft
   DIR Tröglitz
   DIR Fremdenfeindlichkeit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Angriff auf Kommunalpolitiker: „Viele sind innerlich härter geworden“
       
       Bürgermeister Markus Nierth trat 2015 zurück, weil die NPD vor seinem Haus
       aufmarschieren wollte. Nun will er sein Dorf in Sachsen-Anhalt verlassen.
       
   DIR Vor Landtagswahl in Sachsen: Zermürbte Demokratie
       
       In Dresden treffen sich Kommunalpolitiker, die von Rechten bedroht werden.
       Sie beklagen: Oft würden sie mit ihrem Problem allein gelassen.
       
   DIR Tröglitz nach dem Brandanschlag: Das Dorf und die Schande
       
       Ein Flüchtlingsheim hat gebrannt. Der Ministerpräsident ist angereist. Die
       Menschen kommen zusammen – aber in verschiedenen Grüppchen.
       
   DIR Tröglitz in Sachsen-Anhalt: Brand in geplantem Flüchtlingsheim
       
       In Tröglitz brannte in der Nacht ein Haus, das zu einer
       Asylbewerberunterkunft werden sollte. In der Stadt hatte es zuletzt
       wochenlang Proteste Rechtsextremer gegeben.
       
   DIR Bürgermeister-Rücktritt in Tröglitz: Innigkeit und Ignoranz
       
       Weil ihn die NPD bedroht, trat Markus Nierth von seinem Amt zurück. Er
       hatte sich für Flüchtlinge starkgemacht. Ein Ortsbesuch.