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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der Hosentaschler
       
       > Ein kleines Zauberding aus Kindheit und Jugend, wo es oft Magisches
       > vollbracht hat, kann auch im ausgewachsenen Erwachsenenalter interessant
       > sein …
       
       Wenn andere Leute in der Bahn gebannt auf ihre Handys schauen, hole ich den
       Hosentaschler aus meiner Hosentasche. Er erzählt mir dann ein Märchen, zum
       Beispiel, wie einmal ein Zauberer kam, von dem sich alle etwas wünschen
       durften, und alle wünschten sich Geld oder Schönheit oder Klugheit, nur
       einer, der wollte ein Berg werden, und mit der Zeit vergingen die Menschen
       und nur der Berg war noch da, und weil er mit seinem Schicksal haderte,
       wurde er zum Meer – und dann bin ich meistens auch schon da. Oder der
       Hosentaschler erzählt einfach einen Witz.
       
       So weit ich zurückdenken kann, begleitet mich der Hosentaschler. Beim
       Fußball verpasste er meinen Torschüssen Effet, damit sie daneben gingen. So
       wurde ich nicht mehr so oft eingewechselt, denn ich sah dem Rest lieber
       beim Spielen zu. Dann kommentierte er das Spiel der anderen meisterhaft mit
       einer Fünfziger-Jahre-Sportmoderatorenstimme, ganz so wie einst beim Wunder
       von Bern.
       
       Manchmal war der Hosentaschler gemein. Einmal stieß er mich von der
       Schaukel, wodurch mir ein doppelter Rückwärtssalto ins Hospital gelang.
       „Tough Love“ nannte das der Hosentaschler, von dem ich fast täglich neue
       Wörter lernte. Viel wichtiger als der Wortschatzaufbau aber war: Im
       Krankenhaus besuchten mich André und Aladin, weil sie hofften, auf dem Gips
       als Erste zu unterschreiben. Am Ende wurden wir Freunde und blieben es
       auch.
       
       ## Er konnte auch fies, der Hosentaschler
       
       Wirklich fies war der Hosentaschler nur zu anderen. Von Leuten, die mich
       geärgert hatten, zeichnete er böse Karikaturen. Wenn sie eine große Nase
       hatten, zeichnete er sie mit großen Ohren, wenn sie große Ohren hatten,
       verpasste er ihnen hervorstehende Zähne und so weiter. Denn, erklärte mir
       der Hosentaschler, wer große Ohren hat, weiß das und wäre von extra großen
       nicht getroffen, aber wer sich unerwartet mit hervorstehenden Zähnen sieht,
       zweifelt tagelang an seinem Selbstbild.
       
       Mit solchen Geschichten führte mich der Hosentaschler sicher durch meine
       Kindheit und Jugend. Nur bei meinen ersten Schritten in Richtung Liebe war
       er wenig hilfreich. Was aber vor allem an mir lag, denn bevor ich zeigen
       konnte, dass auf die Frage „Willst du sehen, was ich in meiner Hose habe?“
       der Hosentaschler folgte, liefen die meisten Mädchen bereits entrüstet
       fort. Die wenigstens waren hellauf begeistert, die sind mir allerdings am
       liebsten.
       
       Übrigens habe ich am Anfang gelogen: Wenn andere in der Bahn auf ihre
       Handys gucken, gucke auch ich mittlerweile oft auf mein Handy. Das ist in
       Ordnung, denn im Erwachsenenleben zeichnet man weniger Karikaturen und sich
       mehr verantwortlich für alles und jedes. Außerdem ist der Hosentaschler
       auch nicht mehr der Jüngste und hat es sich in meiner Fantasie so gemütlich
       eingerichtet, dass er sie nur noch selten verlässt. Aber wenn, dann lege
       ich Handy oder Buch sofort weg und höre sehr genau zu, was er mir zu sagen
       hat.
       
       16 Jul 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ernst Jordan
       
       ## TAGS
       
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