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       # taz.de -- Einwanderung und Migration: Schluss mit Fluchtnostalgie
       
       > Deutschland braucht eine neue Einwanderungskultur. Das linke und grüne
       > Narrativ, jede und jeder dürfe herkommen, spielt den Rechten in die
       > Hände.
       
       In nichts ist die linke, alternative, grüne Szene so gut, so versiert, so
       rhetorisch sattelfest wie im Abwiegeln realer Alltagsprobleme. Jener Dinge,
       die die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen betreffen. Die
       Wählermehrheit eben. Und eben auch jener, die der AfD ihre Stimme geben.
       Oder dem BSW, Sahra Wagenknechts Bündnis. Das betrifft auch alle Fragen,
       die um das Thema Migration kreisen.
       
       Etwa für ein schwules Paar, das in Dresden von einem als Straftäter
       bekannten muslimischen Geflüchteten angegriffen wurde; für einen der beiden
       Männer endete der Angriff tödlich. Ein Anlass, über Homophobie
       nachzudenken, nicht aber über Islamismus und die aggressive Unbegabtheit
       junger Männer, mit den Umständen der Freiheit in liberalen Gesellschaften
       umzugehen? Oder eine [1][Messerattacke auf einen Polizisten in Mannheim.]
       Oder eine auf Passagiere eines Regionalzugs bei Hamburg.
       
       Ja, schlimm, heißt es in der linken Szene nach solchen Ereignissen, aber
       Einzelfälle. Man dürfe weder über Geflüchtete und schon gar nicht über den
       Islam und den Islamismus reden, das wäre dämonisierend, menschenverachtend
       und nütze – das ist die argumentative Hauptwaffe in diesem Diskurs – nur
       den Rechten. [2][Und soll man sie abschieben?] Aber nein, wie
       menschenverachtend ist das denn! Und außerdem: Was droht ihnen nicht alles
       in den Herkunftsländern! Auch Islamisten, notorisch bei ihren
       Propagandaaktionen erwischt, sollen bleiben dürfen. Wer kriminell geworden
       ist, hat hier nichts zu suchen, auch nicht in einem Gefängnis.
       
       Warum hat die Linke solche Furcht, sich auch nur in Krümeln auf real
       existierende Ängste in der Gesellschaft einzulassen? Warum steht der Islam
       nie in der Debatte? Er gehört selbstverständlich zu Deutschland und seinen
       Kulturen – aber unter allen Bedingungen? Warum sagen Linke nicht:
       Einwanderung, und sei es per Flucht, ist die Chance auf Teilhabe an einer
       reichen, europäischen Gesellschaft, aber nicht die Garantie. Wer die Regeln
       missachtet, kann keinen Platz hierzulande haben.
       
       Was den Rechten aber am meisten dient, ist nicht das öffentliche Sprechen
       über Attacken im Alltag, sondern das begütigende Schweigen darüber. In der
       Tat sind nicht Menschen aus muslimischen Gesellschaften das Problem an
       sich. Aber ihren Milieus entstammen jene Täter, die in Deutschland die Idee
       des Willkommens zerstören. Es wird Zeit, dass die linke (alternative,
       grüne) Haltung zur ungesteuerten Einwanderung hinterfragt wird – aus
       Gründen der Humanität.
       
       ## Linnemann hat nicht recht
       
       Nicht bestritten werden kann, dass Deutschland massenhaft neue Bürger und
       Bürgerinnen braucht. Zugewanderte, am liebsten solche, wie sie bei vielen
       Einbürgerungszeremonien in deutschen Rathäusern vor Glück strahlen,
       [3][wenn sie mit dem deutschen Pass als dazugehörig erklärt werden.]
       Menschen, die ab der ersten Minute ihrer Ankunft in Deutschland nichts mehr
       wollen, als ihren Ehrgeiz in Taten umzusetzen, die ihren Aufstiegswillen
       realisieren wollen – inklusive aller Alltagsakte, die dazugehören: ihre
       Kinder in Kitas und Schulen, Deutschkurse, Arbeit von morgens bis abends.
       
       CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat nicht recht, wenn er erklärt, in
       Deutschland sei Migration das größte Problem. Aber die ungeregelte, die
       über Schlepper und offene Grenzen ermöglichte Einwanderung markiert ein
       Problem, das politisch von Konservativen und Rechtsextremen bewirtschaftet
       wird. In den vergangenen 15 Jahren, insbesondere im „Wir schaffen das“-Jahr
       2015, als Hunderttausende aus Syrien, Irak, Afghanistan nach Deutschland
       flüchteten, hatte diese Art der Einwanderung den Aufstieg der Rechten
       erheblich befördert. Über viele Monate füllten sich allerorten in der
       Republik Sporthallen, Schulen, Gewerbegebietshallen als Aufnahmequartiere.
       
       Grüne und Linke haben das meistens nicht so recht realisiert. Die
       Quartiere, in denen die meisten der Geflüchteten leben, kennen sie in der
       Regel nicht. Sie wissen, wie man die eigenen Kinder nicht mit Flucht
       konfrontiert. Und sie wissen oft auch nicht, dass in vielen Grundschulen
       Kinder kein Deutsch können. Wer die eigene Brut sicher und störungsfrei
       durch das Bildungsmeer segeln lassen will, findet Wege: Privatschulen,
       christlich orientierte Schulen, alternative Schulen.
       
       ## Unvermittelbare Themen
       
       Die Lasten der nach Asylrecht strukturierten Migration tragen Städte vor
       allem an den Rändern, ebenso Dörfer und Kleinstädte. Dass das Wort
       Migration Probleme verhüllen kann, steht auf einem anderen Blatt. Es fehlt
       an Wohnungen in den Städten; es mangelt bei den aktuellen
       Grundstückspreisen an Möglichkeiten, selbst ein Haus zu bauen, ohne sich
       auf ewig zu verschulden.
       
       Der öffentliche Nahverkehr kommt mittlerweile einem Desaster gleich. Über
       diese politischen Felder wird nicht genug gestritten, auch das ist wahr.
       Noch wahrer ist, dass es überall, bis in die letzte Ecke des ländlichen
       Raums, an sogenannten Fachkräften fehlt. [4][Rund 250.000 Menschen pro Jahr
       müssten in die Bundesrepublik einwandern] – nicht nur hochqualifizierte
       IT-Expertinnen* oder medizinisches Personal, sondern auch Arbeitswillige
       mit einer geringeren Qualifikation.
       
       Es ist politisch gewollt, dass die Wege der legalen Migration viel zu
       selten in Erwägung gezogen werden, dafür umso mehr die, die sich wie Flucht
       und Asyl buchstabieren. Für die linksalternative und grüne Szene ist das
       eine Aufgabe, eine humanitär gut begründbare: Flüchtende zu retten, ihnen
       jeden Weg zu bahnen, auf dass viele von ihnen nicht mehr im Mittelmeer
       ertrinken. Die Crux ist nur: Diese Rettungsmissionen sind prinzipiell immer
       nötig, sie waren es vor Jahren schon, und sie werden es in den kommenden
       Jahren bleiben. Dass damit das Geschäft der Schlepperinnen* mit betrieben
       wird, will die linke Szene indes nicht akzeptieren. Ihr geht es um pure
       Menschlichkeit.
       
       Nur ist das in den allermeisten europäischen Ländern politisch nicht mehr
       zu vermitteln. Selbst die Gutherzigen haben kaum noch Sinn für ein nicht
       menschenverachtendes Engagement. Dass die [5][Linkspartei] eine
       [6][Topaktivistin wie Carola Rackete] zur EU-Wahl-Spitzenkandidatin machte
       und mit ihr Schiffbruch erlitt: kein Wunder für eine Partei, die zuerst
       Deutschlands Probleme versuchte zu erörtern – und dann ihre Themen der AfD
       und vor allem [7][dem BSW] überließ.
       
       ## Es muss über männliche Kulturen gesprochen werden
       
       Wären, knapp gesagt, unsere Kreise nicht so selbstverseligend in puncto
       Geflüchtete, könnten sie sich den robusten Problemen zuwenden:
       Mieterkämpfe, Bildungspolitik, Mobilitätskonflikte. Sie könnten sich zudem
       im gesellschaftlichen Diskurs davonstehlen, wenn es mit den gescheiterten
       Einwanderern nicht so klappt, wie es alle multikulturelle Romantik
       bescheinigt. Dann ließe sich verhandeln, ob es nicht vielleicht doch
       sinnvoll wäre, die Geflüchteten möglichst rasch ohne schon
       schulabschlussfähige Deutschkenntnisse dem Arbeitsmarkt zu überlassen. Denn
       die Zugewanderten wollen ja (fast) alle arbeiten, Geld verdienen,
       meinetwegen auch zur Versorgung ihrer Angehörigen in ihrer alten Heimat
       beitragen. Und vielleicht muss vor allem über [8][männliche Kulturen (und
       ihre weiblichen Komplizenschaften)] gesprochen werden, denen zufolge ein
       Mann nur mit einem Messer ein echter Kerl ist.
       
       Seitens der Grünen und Linken darf es kein Tabu sein, offensiv über
       Konzepte der Abschiebung von straffällig gewordenen Migranten und
       Migrantinnen nachzudenken. Zu diesen Delikten zählen natürlich nicht
       Bagatellen wie das Schwarzfahren und leichte Verkehrsvergehen. So weit wie
       in Dänemark sollte es nicht kommen: Wohnviertel aufzulösen, ja sie
       abzureißen, in denen sich Parallelgesellschaften herausgebildet haben.
       Armut und Ausgrenzung dürfen keine weitere Stigmatisierung nach sich
       ziehen.
       
       Klar muss sein, dass sich die neuen Bürgerinnen* auf ein (multikulturelles)
       Leben in Deutschland einzustellen haben, eines nach dem Grundgesetz, das
       versteht sich von selbst. Einen global umrissenen Opferkult darf es nicht
       mehr geben. Es darf aber auch nicht so sein wie in Frankreich, wo
       islamistisch Gesinnte einen säkular orientierten [9][Lehrer wie Samuel
       Paty] ermordeten, was von den Islamolinken kaum betrauert wurde, weil dies
       als Kritik am Islam und gar als Islamophobie ausgelegt werden könnte.
       
       ## Über die Probleme sprechen
       
       Im Übrigen käme es auf ein anderes „Wir schaffen das“ an: die Organisation
       legaler Einwanderung. Denn die ist mit der Ampelregierung möglich geworden.
       Denn, so sagen es alle Wirtschaftsforschungsinstitute, wir brauchen pro
       Jahr eine Viertelmillion neue Bürger und Bürgerinnen, um den
       Fachkräftemangel auszugleichen. Deutschland ohne seine in den vergangenen
       150 Jahren Eingewanderten hätte als globalökonomischer Player keine
       tragende Rolle gespielt – und würde künftig auch keine spielen. Man braucht
       die neuen Bürgerinnen* für hoch dotierte wie auch „einfache“ Jobs. Wer
       hinguckt, wenn ein Paket angeliefert wird, der und die sieht, dass die
       Serviceleute von überall her auf der Welt rekrutiert wurden und werden.
       
       Mit Geflüchteten, die schwierigste Anerkennungsprozeduren durchzustehen
       haben, ist das nicht zu schaffen, weder moralisch noch ökonomisch.
       Sprechen wir also über die Probleme, die Migration mit sich bringt. Das
       liegt übrigens auch exakt im Interesse all jener Einwandernden, die sich
       nichts haben zuschulden kommen lassen. Die Deutschland bejahen und sehr oft
       einen dornigen Ankommensweg zu gehen haben. Genau diese Bürgerinnen* sind
       oft die ersten, die Abschiebungen von kriminellen Migrantinnen* fordern,
       die sagen: „Mit Islamisten habe ich nichts zu tun.“
       
       Wer das alles nicht will, riskiert nicht nur die Thematisierung dieser
       Konflikte durch Konservative und Rechtsextremisten, sondern auch eine
       Schließung der Grenzen, gegen die die Eisernen Vorhänge ein Witz waren.
       
       15 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR Jan Feddersen
       
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