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       # taz.de -- Obdachlosigkeit bei Frauen: Eine Art von Heimat
       
       > Der „Unterschlupf“ ist eine Zuflucht für die, die keine Zuflucht haben.
       > Nun droht der Berliner Tagesstelle für wohnungslose Frauen die
       > Schließung.
       
   IMG Bild: Das Team der Sozialarbeiterinnen des „Unterschlupf“, ganz links Gründerin Betti
       
       Berlin taz | Betti schließt die Tür zu ihrem kleinen, vollgestellten Büro.
       Kurz den Trubel im Haus ausblenden. Wenn sie über die aktuelle Lage
       spricht, schwanken ihre Gefühle zwischen Ratlosigkeit, Trauer, Wut und
       Hoffnung. Es ist ein Mittwochvormittag Anfang Juni. An diesem Tag ist ein
       Gespräch mit einem Hauseigentümer geplant, später ein internes
       Krisentreffen.
       
       Denn der „Unterschlupf“, eine Tagesstelle für wohnungslose Frauen, muss
       Ende des Monats ausziehen. Schon als das Projekt im Februar 2023 startete,
       war klar, dass der Standort in der Berliner Wrangelstraße nur eine
       Übergangslösung ist. Das Haus, das der Evangelischen Kirchengemeinde
       Kreuzberg gehört, soll einem Neubau weichen. In dreieinhalb Wochen läuft
       der Mietvertrag aus, doch nichts Neues ist in Sicht. „Die Situation ist
       bedrohlich“, sagt Betti.
       
       Die gelernte Köchin hat den Unterschlupf gegründet. Sie ist Anfang 60,
       trägt hellblondes Haar, roten Lippenstift, Tätowierungen vom Ohrläppchen
       bis zum kleinen Finger. Betti gehört zu einer Generation von Punks und
       Hausbesetzer*innen, die seit Jahrzehnten in Kreuzberg verwurzelt sind. Weil
       sie nicht gerne in der Öffentlichkeit steht, möchte sie nur ihren Vornamen
       nennen.
       
       Der Unterschlupf ist ein Schutzraum. Die Frauen können dort frühstücken,
       Mittag essen, sich duschen, in der „Boutique“ gespendete Kleidung suchen,
       sich ausruhen. Nachmittags wird gebacken. „Denn wo es nach Kuchen riecht,
       ist Zuhause“, sagt Betti. Im Winter hat die Diakonie im ersten Stock eine
       Notübernachtung betrieben. Das Angebot lief im Rahmen der „Berliner
       [1][Kältehilfe]“ und endete deshalb Ende April. Im Sommer gibt es in
       Berlin viel weniger Schlafplatzangebote dieser Art für Obdachlose. „Dabei
       sind die Nächte für Frauen, die draußen übernachten, gefährlich. Viele
       schlafen gar nicht und kommen morgens hierher“, sagt Betti.
       
       Das Team aus vier Mitarbeiterinnen und Ehrenamtlichen unterstützt bei der
       Suche nach Schlafplätzen und der Organisation von Terminen. Die Atmosphäre
       ist familiär, manchmal ausgelassen. „Gestern sind hier alle im Schlüppi
       rumgelaufen“, sagt Betti. Die Stimmung kann aber schnell umschlagen, wenn
       es Konflikte gibt oder Frauen Ängste und Wahnvorstellungen entwickeln. Das
       Team versuche dann Ruhe zu vermitteln. „Manchmal hilft eine Berührung oder
       Umarmung.“
       
       Das klappt nicht immer. Manche Frauen seien nicht gewohnt, in Gemeinschaft
       zu sein. „Natürlich müssen wir Hausverbote erteilen, wenn Besucherinnen
       Gewalt ausüben“, sagt Betti. Für das Team eine schwere Entscheidung. Vor
       allem, wenn klar ist, dass die Frauen keinen Ort haben, wo sie hingehen
       können.
       
       ## Die Unruhe ist wieder da
       
       Betti schaut auf die Uhr. Demnächst kommt jemand vorbei, der ein großes,
       halb leerstehendes Haus im Kreuzberg besitzt. Eine Chance? Am Nachmittag
       beim Krisentreffen wirkt Betti wenig optimistisch.
       
       Mitarbeiterinnen, Ehrenamtliche und Besucherinnen versammeln sich um den
       großen Esstisch. Wann wird gepackt? Was wird gepackt? Und vor allem: Wohin
       mit dem Zeug? Eine Besucherin erzählt, wie hoch die Mieten für Lagerräume
       sind. Niemand weiß, wie es weitergeht. „Das ist für mich sehr anstrengend“,
       sagt Ela, „Wir Wohnungslosen werden wohnungslos.“ Die quirlige
       Anfang-50-Jährige kommt schon lange zum Unterschlupf und unterstützt bei
       allem, was anfällt. Der Ort sei ihr wichtig. „Ich konnte hier ankommen und
       Luft holen.“ Nun ist die Unruhe wieder da. Neben Essen und Duschen fielen
       auch Sozialkontakte weg. „Das habe ich schon einmal erlebt. Das macht ganz
       schön viel mit mir.“
       
       Ela ist zum zweiten Mal wohnungslos. Vor etwa drei Jahren kam ihre
       Depression zurück. „Ich wusste, wenn ich in der Wohnung bleibe, bringe ich
       mich um“, erzählt sie. Viele Jahre zuvor, als ihre Kinder noch klein waren,
       war das schon einmal passiert. Sie rutschte in eine schwere Depression,
       wusste keinen Ausweg mehr. Sie verließ die Stadt, ging in den Wald. „Dort
       habe ich mir das Leben genommen“, sagt Ela. Am nächsten Tag wachte sie
       wieder auf. Aber sie ging nicht zurück in ihre Wohnung, in ihr altes Leben,
       sondern auf die Straße.
       
       Acht Monate lief sie herum und sammelte Flaschen, bevor sie das erste Mal
       mit jemandem sprach und anfing, Hilfsangebote aufzusuchen. Mithilfe einer
       Sozialarbeiterin fand sie schließlich eine Wohnung. Ihre Kinder hat sie
       nicht mehr wiedergesehen. Wer plötzlich aus dem Leben verschwinde und
       anderen so tiefe Wunden zufüge, könne nicht einfach wieder auftauchen. „Das
       kann ich mit nichts entschuldigen“, sagt Ela.
       
       Viele der Frauen, die in den Unterschlupf kommen, haben Kinder. Einige
       waren Unternehmerinnen, Lehrerinnen, Dozentinnen an der Uni. Dann änderte
       sich ihr Leben. Bei Ela war es die Depression, bei anderen der
       Wohnungsmarkt. „Wenn selbst die ärmsten Bruchbuden teuer neuvermietet und
       die Altmieter verdrängt werden, wird es nächstes Jahr noch eine Einrichtung
       für Obdachlose geben und noch eine“, sagt Ela. Aber an den Ursachen ändere
       sich nichts.
       
       ## Immer mehr Ratsuchende
       
       Unter den Besucherinnen des Unterschlupfs sind Frauen, die mit über 60 auf
       der Straße schlafen. Einige leben seit Jahrzehnten so, andere bekommen
       Rente – aber finden keine bezahlbare Bleibe. Wer wohnungslos sei, habe es
       in den Augen vieler nicht geschafft, sagt Ela. „Aber was hat eine Wohnung
       mit meiner Persönlichkeit zu tun? Ich lebe in einer Wohnsituation ohne
       Obdach, aber der Rest des Menschen ist doch noch vorhanden.“
       
       Den meisten Frauen im Unterschlupf ist ihre Situation nicht anzusehen.
       „Unsere Besucherinnen versuchen unsichtbar zu sein, da gibt es ein ganz
       großes Schamgefühl“, sagt Betti. Einige blieben aus Angst davor, auf der
       Straße zu landen, jahrelang bei Männern, die ihnen Gewalt antun. Auch wegen
       der hohen verdeckten Wohnungslosigkeit gebe es keine genauen Zahlen, wie
       viele Frauen betroffen seien, sagt Kreuzbergs stellvertretender
       Bezirksbürgermeister Oliver Nöll (Die Linke). Deutlich sei, dass bei der
       Anlaufstelle „Soziale Wohnhilfe“ immer mehr Frauen und Familien um Rat
       suchen. „Die Durchlässigkeit von einer gesicherten Mittelstandsexistenz
       zur Wohnungslosigkeit ist viel größer geworden. Das hat natürlich auch mit
       der Situation des Berliner Wohnungsmarkts zu tun.“
       
       Zwei Tage nach dem Krisentreffen ist Nöll zu Gast im Unterschlupf. Er
       verspricht, dass der Bezirk bei der Raumsuche unterstützen werde – aber
       macht deutlich, wie schwierig das ist. Es seien Gesetzesänderungen auf
       Bundes- und Landesebene nötig. „Ansonsten können wir auf Bezirksebene immer
       nur an den Symptomen herumdoktern.“ Er wünsche sich, dass die gesetzlichen
       Instrumente zum Thema Leerstand geschärft, bei den Mietwucher-Paragrafen
       nachjustiert und ein Mietendeckel eingeführt werde.
       
       Im April hat die Bundesregierung e[2][inen Aktionsplan vorgestellt, um
       Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden]. Auch
       in Berlin wurde dieses Ziel vor Jahren ausgerufen. Seitdem hat sich die
       Lage auf dem Wohnungsmarkt weiter verschärft. Anfang Juni stellte
       Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) ein neues Projekt vor: ein soziales
       Unternehmen, das sich um Wohnungen für Wohnungslose kümmert. Vorbild seien
       das [3][Hamburger Projekt Fördern und Wohnen] sowie das
       [4][Housing-First-Prinzip] in Finnland. Auch in Berlin gibt es bereits
       Housing-First-Modellprojekte. Dabei werden ohne Vorbedingungen Mietverträge
       angeboten.
       
       ## Die Suche nach Räumen ist schwierig
       
       Zweieinhalb Wochen vor dem anstehenden Auszug ploppt eine Nachricht von
       Betti im Teamchat auf: „Wir dürfen bis Ende Dezember im Haus bleiben!!! Ich
       bin so glücklich darüber.“ Keine Entwarnung, aber ein Aufatmen. Die
       Evangelische Kirchengemeinde plane den Abriss aktuell für Anfang 2025, sagt
       Geschäftsführer Erik Berg. Entstehen solle ein sechsgeschossiger Wohnbau
       mit Gewerbeflächen. Geplant sei eine „gute“, aber „keine
       Luxus-Ausstattung“. Berg spricht dabei von Mieten unter 20 Euro pro
       Quadratmeter und verweist auf die hohen Baukosten. „Wir sind letzten Endes
       auch eine Institution, die wirtschaftlich denken muss“, sagt Pfarrerin
       Rebecca Marquardt-Groba. Sie verspricht, den Unterschlupf bei der Raumsuche
       zu unterstützen.
       
       Die Verhandlungen mit dem Hauseigentümer für einen alternativen Standort
       haben sich unterdessen zerschlagen. 40 Euro Miete pro Quadratmeter könne
       der Unterschlupf nicht zahlen, sagt Betti. Die Tageseinrichtung finanziert
       sich hauptsächlich über einen privaten Spender. Die Finanzierung sei zwar
       erst mal gesichert, aber leider hätten Vermieter oft Vorbehalte. Einige
       Gespräche habe sie als „zutiefst verletzend“ empfunden, erzählt Betti.
       Sollte sie nicht mehr so deutlich sagen, was sich hinter dem Projekt
       verbirgt? „Mich macht das sauer. Warum muss ich da so herumscharwenzeln?“
       Ähnliche Erfahrungen mache „Evas Obdach“ in der Fuldastraße in Neukölln,
       erzählt Teamleiterin Natalie Kulik. Der Mietvertrag für eine der wenigen
       ganzjährig geöffneten Notunterkünfte für Frauen läuft im Sommer 2025 aus,
       das Haus wird verkauft.
       
       Während die Suche läuft, geht der Alltag im Unterschlupf weiter. Einige
       Frauen schlafen, andere sitzen auf der Terrasse und spielen einander Musik
       vor. Das Klopapier ist alle, die Zuckerdose leer. Eine junge Frau kommt an,
       die mit ihrem gewalttätigen Partner gelebt hat. Ela sucht auf ihrem Handy
       nach Anzeigen für Gewerberäume. Eine Ehrenamtliche singt mit Besucherinnen.
       Im Unterschlupf kommen Frauen einander nahe, die sonst keine
       Berührungspunkte haben, sagt Betti. „Für uns ist es wichtig, dass wir uns
       solidarisieren.“
       
       Transparenzhinweis: Inga Dreyer ist freie Journalistin und hilft etwa zwei
       bis drei Stunden pro Woche ehrenamtlich im Unterschlupf mit.
       
       13 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inga Dreyer
       
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