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       # taz.de -- Kinder- und Jugendbücher für den Sommer: Mach dich auf den Weg
       
       > Zwei Neuerscheinungen in Kinder- und Jugendromanen sowie eine Graphic
       > Novel erzählen von Zusammenhalt, Fluchterfahrungen und US-Geschichte.
       
   IMG Bild: Graphic Novel von Marzena Sowa (Text) und Dorothée de Monfreid (Illustration): „Die kleine Flucht“
       
       „Das ist bestimmt nicht mein Zuhause. Mein Zuhause wird anders sein, und
       vor allem wird es woanders sein.“ Auf dem Müllplatz bei Herrn Skarabäus
       will die kleine rote Spinne auf gar keinen Fall bleiben. An diesen
       trostlosen Ort hatte ihre Mutter sie gebracht. Hier sollte die ungeratene
       Tochter unter Aufsicht des dicken Käfers endlich lernen, so ordentliche
       Netze zu spinnen wie ihre Geschwister im Wald.
       
       Bildstark und humorvoll erzählt die Graphic Novel „Die kleine Flucht“ von
       der ersten Verzweiflung der jungen Spinne und der Resignation ihrer neuen
       Schicksalsgenossinnen – einer lispelnden Fliege, einem Glühwürmchen mit
       schwacher Leuchtkraft und einer immer traurigen Hummel. Für die drei
       ängstlichen [1][Insekten] sind die Tristesse und Monotonie ihres Alltags im
       Müll Normalität, genauso wie die Launen ihres Aufpassers, des strengen
       Skarabäus.
       
       Nur die rote Spinne kann sich an die Gräser im Wind, die Pinien, Birken,
       Weiden und Tautropfen ganz genau erinnern. Sie weiß, dass ein Leben im Wald
       viel schöner ist. Mühsam kann sie ihre mutlosen Weggefährten überzeugen,
       etwas Neues zu wagen. Und so schleicht sich die bunte Runde ängstlich in
       der Dunkelheit davon. Schwach leuchtet das Glühwürmchen ihnen den Weg.
       
       Mit überzeugenden Charakteren und in originellen Szenen entwickeln die
       Autorin Marzena Sowa und die Illustratorin Dorothée de Monfreid eine
       einfühlsame Geschichte über Freundschaft und Unvollkommenheit. Die
       französische Zeichnerin Dorothée de Monfreid, die besonders durch ihre
       [2][lebendigen Kindercomics der Hundebande] bekannt geworden ist,
       unterstreicht in „Die kleine Flucht“ mit wechselnden Farben und starken
       Kontraste wirkungsvoll die Dramaturgie des Abenteuers.
       
       Spinne, Fliege, Hummel und Glühwürmchen – ihre Figuren haben Ecken und
       Kanten. Vereint überstehen sie tödliche Gefahren und entdecken das Gefühl,
       glücklich zu sein. Im Zusammenspiel mit dem von Ulrich Pröfrock stimmig aus
       dem Französischen übersetzten Dialogen entsteht daraus eine temporeiche
       und vielschichtige Erzählung über individuelle Schwächen und gemeinsame
       Stärken.
       
       ## Kinderbuch über Geschichte und Alltag in Russland
       
       Anna Desnitskaya ist eine russische Kinderbuchautorin und -illustratorin.
       In deutscher Übersetzung machen ihre vielfach ausgezeichneten
       Sachbilderbücher „In einem alten Haus in Moskau“ (2017) oder „Von Moskau
       nach Wladiwostok“ (2021) über eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
       junge Leser*innen mit der Geschichte und dem Alltag in Russland bekannt.
       
       „Ein Stern in der Fremde“ ist ihr jüngstes Bilderbuch. Es entstand aus
       einer sehr persönlichen und zugleich dem aktuellen Zeitgeschehen
       geschuldeten Erfahrung. Denn nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am
       24. Februar 2022 beschlossen die Autorin und ihre Familie, von einer
       Auslandsreise nicht mehr nach Moskau zurückzukehren. Danach folgten unter
       widrigen Umständen Stationen in verschiedenen Ländern. Heute leben sie in
       [3][Montenegro].
       
       In dem Bilderbuch findet Desnitskaya eindrückliche Bilder und knappe Sätze
       für den plötzlichen Verlust alter Gewohnheiten und dem übermächtigen
       Gefühlen von Fremdheit. Wehmütig erinnert sich ein Mädchen in „Ein Stern in
       der Fremde“ an ihr altes, vertrautes Leben in der Großstadt.
       
       Selbstständig war sie dort auf den Straßen der Nachbarschaft unterwegs, und
       im Winter leuchtete ihr schon von Weitem eine sternförmige Papierlampe
       durchs Fenster ihrer Wohnung den Weg nach Hause. Neben diesem Stern auf der
       Fensterbank saß sie gemütlich mit ihren Büchern oder schaute nach draußen –
       bis plötzlich der Krieg begann und sie mit ihrer Mutter floh. „Wir gingen
       in ein anderes Land. Hier ist alles anders als zu Hause. Eine fremde
       Wohnung. Eine fremde Aussicht. Fremdes Essen.“
       
       In der Darstellung wechselnder Räume und Straßen in der Abenddämmerung
       findet Desnitskaya einen starken bildlichen Ausdruck für die große
       Verunsicherung des Mädchens, aber auch für ein erstes Ankommen. Denn
       glücklicherweise gelingt es der Mutter bald mit einer kleinen, aber
       hoffnungsvollen Maßnahme in der neuen Umgebung das alte Leuchten und eine
       Spur von Zuhause herzustellen.
       
       ## Jugendroman zur US-Geschichte vor dem Bürgerkrieg
       
       Ein außerordentliches Lesevergnügen für die Sommerferien bietet der 300
       Seiten starke Abenteuerroman der US-amerikanischen Jugendbuchautorin R. J.
       Palacio. „Pony. Wenn die Reise deines Lebens lockt, mach dich auf den Weg“
       schildert die Suche des zwölfjährigen Silas nach seinem entführten Vater
       durch den Mittleren Westen der USA. Begleitet wird der scheue Halbwaise von
       Mittenwool, einem für andere unsichtbaren Freund und Beschützer, und einem
       zugelaufenen, schwarzen Pony mit auffällig weißem Kopf.
       
       Ihr Weg führt sie schon bald in einen düster sumpfigen Wald, der von
       unheimlichen Stimmen erfüllt zu sein scheint. Dort stößt Silas zufällig auf
       den kauzigen Enoch Farmer. Der berichtet, einigen Ganoven auf der Spur zu
       sein. Zu denen zählt auch Mr. Ollerenshaw, der Anführer einer berüchtigten
       Fälscherbande. Sein Name war bei der Entführung des Vaters gefallen, und so
       schließt sich der Junge dem alten Federal Marshal an.
       
       Die opulent angelegte Erzählung beginnt 1860, ein Jahr vor dem Ausbruch des
       Amerikanischen Bürgerkriegs, in dem sich Gegner und Befürworter der
       Sklaverei gegenüberstehen. Auch frühe Verfahren der Fotografie aus jener
       Zeit spielen eine Rolle in dem Roman, und einige historische
       Daguerreotypien hatten sogar Einfluss auf seine Entstehung.
       
       Eine Auswahl hat Palacio den Kapiteln in „Pony“ vorangestellt. Diese wachen
       und berührenden Porträts von unbekannten Kindern, Männern und Frauen haben
       sie zu ihren Romanfiguren inspiriert. Genauso sorgfältig recherchierte die
       Autorin, die 2012 mit der Veröffentlichung ihres Debütromans „Wunder“
       weltberühmt wurde, zu Themen wie Geldfälschung oder Spiritismus im
       historischen Kontext der Erzählung.
       
       Als Silas von seinem behüteten Zuhause aufbricht, beginnt für ihn nicht nur
       ein neuer Lebensabschnitt. Die Suche nach seinem Vater wird auch zu einer
       Reise in dessen Vergangenheit und führt ihn hinter das Geheimnis seiner
       eigenen Herkunft.
       
       Martin Bird war einst als mittelloser junger Mann nach Amerika
       ausgewandert. Als hochbegabter Erfinder und Fotograf lebte er mit dem Sohn
       zurückgezogen in einem abgelegen Haus. Denn Silas Mutter Elsa war bei der
       Geburt gestorben. Von ihr war dem Jungen nur die bayrische Geige geblieben.
       Die konnte er zwar nicht spielen, doch instinktiv nahm er den Geigenkoffer
       mit, als er sich mit Mittenwool auf den Weg machte. 
       
       Jede ihrer Figuren stattet J.R. Palacio mit einer umfangreichen Biografie
       aus. Auch wenn diese Hintergründe in der Erzählung oftmals nur in einem
       Nebensatz angedeutet werden, entstehen dadurch lebendige Charaktere mit
       Vergangenheit, die sie in der Handlung zusammenführt. Zusammen mit einer
       Fülle an zusätzlichen Verweisen wird dieses spannende Abenteuer zu einer
       komplexen, zuweilen anspruchsvollen Lektüre. Das macht „Pony“ auch zu einem
       idealen Vorlesebuch.
       
       12 Jul 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
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