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       # taz.de -- Wohnungsleerstand in Ostdeutschland: Projekt Landnahme
       
       > In Ostdeutschland stehen zigtausende Wohnungen leer, die
       > Immobilienwirtschaft fordert deswegen großflächigen Abriss. Besser wäre
       > ein andere Lösung.
       
   IMG Bild: Geht doch mit links: Ökodorf 7 Linden in Sachsen-Anhalt
       
       Berlin platzt bekanntlich seit Jahren aus allen Nähten: Wer in der
       Hauptstadt eine bezahlbare Wohnung suchen muss, braucht starke Nerven – und
       gute Connections. Nicht das Berghain, sondern eine öffentlich beworbene
       Wohnungsbesichtigung hat heutzutage die längste Schlange der Stadt. Eine
       Besichtigung im Stadtteil Charlottenburg musste im vergangenen Jahr
       abgebrochen werden, weil zu viele verzweifelte Interessent*innen
       erschienen. Die triste Lage wurde inzwischen im Videospiel „Berlin Flat
       Quest“ parodiert – ein Spiel, das eigentlich niemand gewinnen kann.
       
       Die Gründe dafür sind vielfältig: der zunehmende Zuzug in die Hauptstadt,
       der stockende Neubau, der gekippte Mietendeckel. Doch leere Wohnungen gibt
       es – in Ostdeutschland sogar viele. So viele, [1][dass der Gesamtverband
       der deutschen Wohnungswirtschaft (GdW) vergangene Woche deren Abriss oder
       Rückbau forderte, wie das Handelsblatt berichtete.] Im ländlichen Raum gibt
       es bei GdW-Unternehmen bis zu 15 Prozent Leerstand, allein in
       Sachsen-Anhalt sind knapp 30.000 Wohnungen unbewohnt. Und dieser Leerstand
       sei zu teuer, sogar „unternehmensgefährdend“, so der Chef des Verbands.
       
       Eine erstaunliche Meldung, bedenkt man, dass es bundesweit knapp eine halbe
       Million Menschen ohne eigene Wohnung gibt, wie das Statistische Bundesamt
       am Montag mitteilte – ein Anstieg von 18 Prozent innerhalb eines Jahres.
       „Für eines der reichsten Länder der Welt ist das ein Skandal!“,
       [2][kommentierte die Diakonie Deutschland.]
       
       Italien zumindest sieht in der Leerstandskrise eine Chance: [3][2019
       versteigerte die sizilianische Stadt Sambuca Wohnungen ab einem Preis von
       einem Euro] und wiederholte die Aktion wegen des großen Erfolgs 2021
       [4][und im Juni diesen Jahres (mit Preisen ab 3 Euro).] Das Ziel:
       verlassene Orte wiederzubeleben. Die neuen Eigentümer kamen aus
       Großbritannien, Russland, Chile oder Israel. Der Haken: Sie waren dazu
       verpflichtet, ihre Schnäppchenhäuser innerhalb von drei Jahren zu sanieren.
       Auch andere Städte und Dörfer in Italien und Spanien versteigerten ähnlich
       ihre Leerstände zum Discounterpreis.
       
       ## Abriss als Antifaschismus?
       
       Für Deutschland ist das allerdings ein Horrorszenario. Denn seit Jahren
       versuchen hier vor allem Rechtsextreme, den ländlichen Raum zu besetzen,
       besonders in Ostdeutschland. Die Zahl der Szeneimmobilien ist in den
       vergangenen Jahren gestiegen: [5][Über 210 Objekte] sollen sie jetzt
       verfügen, wie aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine
       Anfrage der Linken-Abgeordneten Martina Renner hervorgeht – von
       schwarz-weiß-roten Fantasiekönigreichen über „völkische Siedlungen“ bis hin
       zu Rechtsrockhochburgen. Die Führungsposition der ostdeutschen Bundesländer
       ist deutlich – mit 28 Objekten in Sachsen, 23 in Thüringen und 22 in
       Brandenburg. Eben die drei Bundesländer, die im September wählen werden und
       in denen die rechtsextreme AfD den Umfragen zufolge auf Platz eins landen
       könnte.
       
       Man könnte also meinen, der Abriss von Wohnungen in Ostdeutschland sei
       tatsächlich ein antifaschistischer Akt. Umso weniger
       Schnäppchenimmobilien, desto weniger Nazis, die in ländlichen Regionen Fuß
       fassen können.
       
       Doch es gibt eine andere Lösung. Statt Wohnungen abzureißen oder an den
       rechten Rand zu verscherbeln, muss die wohnungssuchende Großstadtlinke es
       wagen, aufs Land zu ziehen. Und zwar als Aktivist:innen, im Kampf für
       bessere Lebensbedingungen bei Mobilität, Kinderbetreuung, Nahversorgung,
       als Vorkämpfer:innen für neue solidarische Wohn- und Lebensmodelle.
       Eine solche linke Landnahme böte die Chance, dem rechten Konsens vor den
       Landtagswahlen nicht nur demografisch etwas entgegenzusetzen – sondern auch
       inhaltlich.
       
       19 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bevoelkerungsrueckgang-wohnungswirtschaft-verlangt-massive-abrissprogramme-01/100049816.html
   DIR [2] https://www.tagesschau.de/inland/wohnungslose-statistik-100.html
   DIR [3] https://www.euronews.com/travel/2021/09/28/italy-is-selling-1-houses-to-boost-tourism-here-s-why-i-want-to-buy-one
   DIR [4] https://it.euronews.com/viaggi/2024/06/19/sicilia-sambuca-torna-a-mettere-allasta-le-sue-case-disabitate-3-euro-il-prezzo-di-partenz
   DIR [5] https://www.belltower.news/210-rechte-orte-immer-mehr-immobilien-in-der-hand-der-rechtsextremen-szene-150265/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nicholas Potter
       
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