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       # taz.de -- 50 Jahre Zypern-Teilung: Eine Insel, keine Lösung
       
       > Nach einer türkischen Offensive am 20. Juli 1974 wird Zypern zweigeteilt.
       > Bis heute bestimmt die Trennung den Alltag der Menschen.
       
       Kaimakli, Famagusta und Lefkosa taz | Die Sirenen heulen. Um 8.20 Uhr
       ertönen sie an diesem brütend heißen Montag in Kaimakli, einem
       nordöstlichen Vorort von Zyperns Hauptstadt Nikosia. Kein Mensch auf der
       Straße reagiert. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Die Leute wissen:
       Heute ist keine Gefahr. Das war vor – auf den Tag genau – 50 Jahren ganz
       anders. Die Sirenen erinnern an den Staatsstreich vom 15. Juli 1974. Die
       Putschisten wollen die Vereinigung mit Griechenland. Den Putsch führen die
       zyprische Nationalgarde und Mitglieder der berüchtigten EOAKA-B, einer
       ultranationalistischen paramilitärischen Organisation der Zyperngriechen,
       auf Geheiß der Athener Militärjunta durch. Ihr Ziel ist es, Zyperns
       gewählten [1][Präsidenten Erzbischof Makarios III.] zu stürzen.
       
       Makarios steht im Streit mit den Athener Obristen. Kompromisslos fordert er
       die Selbstbestimmung der Völker, den Abzug der griechischen Offiziere von
       Zypern und übt harsche Kritik an der Athener Militärdiktatur. Den USA ist
       der „Fidel Castro des Mittelmeers“, der sich der Bewegung der Blockfreien
       Staaten anschließt, sowieso nicht geheuer. Die Supermacht will zwar keinen
       Krieg zwischen zwei Nato-Mitgliedern, Griechenland und der Türkei, den
       beiden Garantiemächten der noch jungen Republik Zypern. Sehr wohl wollen
       die USA aber die Absetzung von Erzbischof Makarios. Hinter den Kulissen
       unterstützt die CIA den Staatsstreich der Griechen und eine türkische
       Invasion auf der Insel, um die Rolle der Türkei, ein Schwergewicht in der
       Nato, in der Region zu stärken. Gekonnt setzt Washington Akteure aller
       Seiten als Werkzeuge und Schachfiguren ein.
       
       Die Ereignisse überschlagen sich. Erzbischof Makarios flieht nach Paphos im
       Inselsüden. Nach einer abenteuerlichen Flucht erreicht Makarios New York.
       Dort nimmt er am 19. Juli an der Sitzung des UN-Sicherheitsrats teil.
       Unverhohlen prangert er die Athener Junta an, wirft ihr ohne Umschweife
       eine Invasion vor. Am 20. Juli 1974 greift die Türkei auf Zypern ein.
       Ankara beruft sich auf Artikel 4 des Garantievertrags zu Zypern. Türkische
       Truppen landen im Morgengrauen im Norden der Insel. Im Eiltempo besetzt das
       türkische Militär in der [2][Operation Attila]etwa sieben Prozent der
       Inselfläche. In einer zweiten Offensive, Attila II, bringen die türkischen
       Truppen vom 14. bis 18. August weitere 30 Prozent der Inselfläche unter
       ihre Kontrolle.
       
       50 Jahre später empfängt der Zyperngrieche Pater Marios im Herzen von
       Kaimakli in seinem kleinen Beichtzimmer im Untergeschoss der mächtigen
       Kirche Aghios Polydoros. Er ist ein großgewachsener Mann, mit einem für
       orthodoxe Priester typischen Rauschebart. Soeben hat ihm eine
       Mitvierzigerin ihre Sünden gebeichtet. „Wer beichtet, muss Reue zeigen. Wir
       Priester sind nur der Überbringer der Erlösung von den Sünden“, sagt der
       62-Jährige. Der Namensgeber der Kirche in Kaimakli, ein Händler, der lange
       nach seinem Tod heilig gesprochen wurde, sei 1794 von den türkischen
       Herrschern erhängt worden, erklärt er. „Er wollte kein Muslim sein, sondern
       Christ bleiben. Dafür brachten ihn die Türken um“, erzählt der Pater
       ehrfürchtig. Zum 20. Juli 1974 erzählt er: Die türkische Armee wollte
       damals Kaimakli komplett erobern. Jedoch ohne Erfolg. Nur die Ackerflächen,
       die die Bewohner von Kaimakli bis dahin bewirtschafteten, brachten sie
       unter ihre Kontrolle.
       
       Nach der türkischen Offensive wird Zypern geteilt. Rund 160.000
       Zyperngriechen werden aus dem Inselnorden in den Inselsüden vertrieben,
       Tausende Zyperntürken verlassen den Inselsüden in Richtung Norden. Die
       Zyperngriechen kontrollieren den Inselsüden, die Zyperntürken den
       Inselnorden. Das ist bis heute so. Die 1983 ausgerufene „Türkische Republik
       Nordzypern“ wird nur von der Türkei anerkannt. Die Republik Zypern wird
       2004 EU-Mitglied und tritt 2008 der Eurozone bei. Die letzten bilateralen
       Gespräche zur [3][Lösung der Zypernfrage] scheitern Mitte 2017. Die Türkei
       will eine Zwei-Staaten-Lösung, das lehnt die Republik Zypern jedoch
       vehement ab. Der Inselnorden zählt 350.000 Bewohner, die Türkisch sprechen
       und fast alle Muslime sind. Der Süden hat 900.000 Bewohner, die Griechisch
       sprechen und fast alle orthodox sind. Nikosia ist die letzte geteilte
       Hauptstadt der Welt.
       
       „1974 fand auf Zypern eine ethnische Säuberung statt“, unterstreicht Pater
       Marios. Das habe nicht nur die Zyperngriechen betroffen, die aus dem Norden
       in den Süden flohen. Er kenne eine türkischzypriotische Familie aus Paphos,
       einer Stadt im Südwesten des Landes. „Sie wollten nicht weg. Sie haben
       geweint, als sie ihr Haus verlassen mussten.“ Es gab aber auch eine Zeit,
       da waren die Fronten weniger verhärtet. „Wir lebten friedlich mit den
       Zyperntürken zusammen. Wir waren Freunde“, erinnert sich Pater Marios. Das
       war vor [4][den Unruhen 1963], in denen die Gewalt zwischen griechischen
       Zyprioten und türkischen Zyprioten erstmals gewaltvoll eskaliert. Dann habe
       die Türkei den Zyperntürken immer mehr die Marschrichtung vorgegeben, sagt
       er.
       
       Der Westen habe Ankara dabei freie Hand gelassen, die Türkei „aufgeweckt
       und angestachelt, auf Zypern aktiv zu werden“, ätzt er. Für den Geistlichen
       ist damals wie heute klar: „Die Türkei will sich ganz Zypern einverleiben.
       Ihr Motto lautet: ‚Die Insel gehört uns!‘ Werde diesem Bestreben nicht
       Einhalt geboten, seien hernach Kreta oder andere Regionen dran, fürchtet
       Pater Marios. „Die Lösung des Zypernkonflikts ist nicht eine Sache zwischen
       Zyperngriechen und Zyperntürken, sondern hat vor allem mit der Türkei und
       ihrem stetigen Expansionsdrang zu tun.“
       
       Der Umstand, dass die Flagge der „Türkischen Republik Nordzypern“ (TRNC)
       von den dortigen Behörden an den Hängen des Berges Pentadaktylos in einer
       riesigen Gesamtfläche nachgebildet wurde, um überall sichtbar zu sein, ist
       für Pater Marios bloß „ein Provisorium“. Der Pfarrer übt sich in Geduld.
       „Wir haben auf Zypern 300 Jahre Osmanenherrschaft überstanden. Wieso sollen
       dann 50 Jahre viel sein?“
       
       Famagusta (griechisch: Ammochostos) ist eine pulsierende,
       55.000-Einwohner-Stadt an Zyperns Ostküste. Hier lebt Deniz Altiok, nur 50
       Kilometer Luftlinie von Kaimakli und Pater Marios entfernt. Die junge
       Zyperntürkin und den altgedienten orthodoxen Priester aus Kaimakli trennt
       die von der UN bewachte „Grüne Linie“, eine Pufferzone zwischen dem
       Inselnorden und Inselsüden. Dabei hat Altiok als Kind türkischer Zyprioten,
       die schon seit Generationen auf Zypern leben, den gleichen Pass wie Pater
       Marios: jenen der Republik Zypern, die Freizügigkeit in der EU inbegriffen.
       
       Wer jedoch erst nach Zyperns Teilung vom türkischen Festland in den
       Inselnorden entweder auf Anordung aus Ankara oder freiwillig kam, ist aus
       Sicht der Republik Zypern ein „Epikos“ („Siedler“). Ihm und seinen
       Nachfahren wird daher – anders als bei Altiok und Co. – die
       Staatsangehörigkeit der Republik Zypern verwehrt. Die türkischen Siedler im
       Inselnorden samt ihren Nachfahren sollen über 100.000 Bewohner sein. Bei
       der Suche nach einer Lösung im Zypernkonflikt ist die Staatsangehörigkeit
       ein großer Konfliktpunkt.
       
       Ihr Vater sei kurz vor Kriegsausbruch von seiner Heimatstadt Paphos in den
       Inselnorden geflohen, erzählt Deniz Altiok. „Er ahnte, dass etwas passieren
       würde. Er wollte nicht kämpfen, für keine Seite. Er wollte nicht Teil des
       Konflikts werden“, sagt die 31-Jährige. Ihre Mutter, eine überzeugte Linke,
       stammt aus Larnaka im Inselsüden. Zum Zeitpunkt der Ereignisse im Sommer
       1974 auf Zypern sei sie Studentin in der Türkei gewesen. Deniz’ Mutter
       leistete dort Widerstand gegen die türkische Militärjunta, während in ihrer
       Heimat Zypern die Athener Obristen ihr Unheil trieben. „Meine Familie
       glaubte immer an den Frieden. Das hat mich stark geprägt“, sagt Deniz
       Altiok.
       
       Als Deniz Altiok 1993 zur Welt kam, war die „Türkische Republik Nordzypern“
       (TRNC) schon zehn Jahre alt – für die Zyperngriechen schlicht ein
       „Pseudo-Staat“. Sie studierte in Kent Jura. Erst im Süden Englands, als sie
       mit Zyperngriechen an der Universität in direkten Kontakt kam, wurde ihr
       die Teilung Zyperns bewusst. „Ich hatte nie eine Grenze im Kopf. Die
       Zyperngriechen sind hingegen in ihrem Narrativ aufgewachsen. Für sie sind
       wir Zyperntürken die Bösen. Anfangs war ich verärgert. Ich fragte mich:
       Habe ich etwas falsch gemacht? Bin ich falsch aufgewachsen?“ Mit der Zeit
       näherten sie sich jedoch an. „Wir wurden sehr enge Freunde, waren gemeinsam
       mit den Zyperngriechen in der Zyprischen Studentenschaft.“
       
       Nach ihrem Studium kehrt sie nach Zypern zurück, tritt seither für
       Migranten und Menschen aus der LGBTQIA-Community ein. Sie fungiert in der
       Plattform für Menschenrechte mit Sitz in Nord-Nikosia, das türkisch Lefkosa
       heißt, als Koordinatorin im Programm Anti-Trafficking und
       [5][Flüchtlingsrechte]. Die Lösung des Zypernkonflikts sei für die
       Zyperntürken „keine Priorität mehr“, offenbart Altiok. Das gelte auch für
       sie. Früher sei die Suche nach einer Lösung hierzulande das Thema Nummer
       eins gewesen. „Das ist vorbei. Wir sind zwar mit der aktuellen Situation
       nicht zufrieden. Zugleich tun wir aber nichts, um die Dinge zum Besseren zu
       verändern. Nicht auf der Straße, nirgendwo.“ Sie habe ihre Hoffnung auf
       eine Lösung verloren.
       
       Im Inselnorden treibe der Alltag die Menschen um, so Deniz Altiok. „Wir
       werden immer ärmer. Wir versuchen nur zu überleben, irgendwie durch den Tag
       zu kommen.“ Vor allem die galoppierende Inflation belastet. Sie resultiert
       aus dem enormen Wertverlust der türkischen Lira, im Norden Zyperns die
       offizielle Währung. Geht es mit der türkischen Lira bergab, dann ist auch
       der Norden Zyperns unmittelbar davon betroffen.
       
       Omac Cin treiben andere Dinge um. In seinem weitläufigen Verkaufsraum in
       einem unscheinbaren Gebäude in Lefkosa stehen schicke Sofagarnituren,
       hochwertige Betten, massive Tische, bunte Stühle. Der 59-Jährige macht es
       sich auf einem Sofa gemütlich. Er verkaufe eingeführte Möbel, habe zudem
       eigene Fertigungsstätten, sagt er. Die importierte Ware komme aus der
       Türkei, seine produzierten Möbel verkauft er nur im Inselnorden. „Ich würde
       meine Möbel gerne auch im Inselsüden verkaufen. Das geht aber nicht.“ Die
       simple Logik: Produkte aus Nordzypern dürfen nicht in den Inselsüden, die
       übrige EU und fast überall auf der Welt ausgeführt werden, weil die
       „Türkische Republik Nordzypern“ außer für die Türkei gar nicht als Land
       existiert. Dabei hat Omac Cin einträgliche Geschäfte in neuen, viel
       größeren Absatzmärkten als im Niemandsland Nordzypern bitter nötig. Der
       bisher boomende Immobiliensektor, ein wichtiger Pfeiler der Wirtschaft im
       Inselnorden, ist in unruhiges Fahrwasser geraten.
       
       Denn Zyperns Behörden gehen zuletzt hart gegen Personen vor, die im Norden
       Zyperns Immobilien verkaufen oder bebauen. Diese Immobilien gehören trotz
       der faktischen Teilung der Insel weiter ihren rechtmäßigen
       zyperngriechischen Eigentümern, die im Sommer 1974 aus ihren Häusern im
       Inselnorden in den Inselsüden flohen. Zuletzt blühte das Geschäft mit
       diesen Liegenschaften im Norden, sehr zum Verdruss der rechtmäßigen
       zyperngriechischen Eigentümer. Sie wollen nicht, dass ihr altes Eigentum im
       Inselnorden von anderen illegal erworben oder genutzt wird.
       
       Erst kürzlich wurde eine 49-jährige Deutsche auf dem Flughafen von Larnaka
       verhaftet, die im Immobilienmarkt im Norden Zyperns aktiv ist. Ferner nahm
       die zyprische Polizei den israelischen Geschäftsmann Simon Mistriel Aykut
       fest, ein großer Fisch in der Branche. „Das ist ein Erdbeben in unserer
       Immobilienbranche“, legt Möbelverkäufer Cin den Finger in die Wunde. Die
       Turbulenzen treffen ihn mit voller Wucht. Ohne neue Wohnungen braucht man
       keine neuen Möbel. Cin bleibt nun buchstäblich auf seiner Ware sitzen.
       
       Die Missstände in Sachen Liegenschaften im Inselnorden sind auf der Suche
       nach einer Lösung im Zypernkonflikt ein zweiter chronischer Streitpunkt
       zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken. Umgekehrt könnte eine Lösung im
       Zypernkonflikt diese Missstände abstellen. Doch ein Einvernehmen ist nicht
       in Sicht.
       
       Die Öffnung der Republik Zypern für Waren aus dem Inselnorden wäre in
       seinen Augen der erste Schritt, um die Teilung der Insel endlich zu
       überwinden, so der Vorschlag von Unternehmer Cin. „Wir würden mehr Geld
       verdienen und so zum Süden aufschließen. Nur so können wir auf gleicher
       Augenhöhe mit den Zyperngriechen zusammenleben.“ Andernfalls bestünde für
       die Zyperntürken die Gefahr, vom bevölkerungsreichen und wohlhabenden Süden
       „geschluckt“ zu werden.
       
       Cins Sicht der Dinge hat Gewicht. Er ist Präsident der
       türkischzypriotischen und zugleich Co-Präsident der gemeinsamen türkischen
       und türkischzypriotischen Handelskammer. Einer Zweistaatenlösung erteilt
       Cin eine Absage. „Zypern ist zu klein, um zwei Staaten Platz zu bieten.“
       Eine baldige Lösung im Zypernkonflikt sieht er nicht. Gleichzeitig betont
       er: „Einen Krieg zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken wie 1974 darf es
       nie wieder geben.“
       
       Die gleißende Sonne, die genau 50 Jahre nach dem Putsch auf Zypern
       unbarmherzig auf Kaimakli brennt, geht gerade unter. Eine Mauer, etwa vier
       Meter hoch, wirft immer längere Schatten. Verfallene Gebäude, eine
       unbebaute Fläche, überall Unkraut, das keiner jätet, ein Stoppschild. Die
       Georgios-Griva-Digeni-Straße, benannt nach dem Gründer der EOAKA-B, der
       Putschisten, endet hier, an der Grünen Linie zwischen Groß-Kaimakli und
       Klein-Kaimakli. Für Tasos Lamnisos alias X.YPNO, das auf Griechisch „Ich
       wache auf“ bedeutet, ist das die ideale Kulisse. Der 25-jährige hat einen
       Lockenkopf, trägt eine Halskette, dunkles T-Shirt, kurze Hose, und ist
       Rapper. Was ihn von anderen unterscheidet: Er singt im zyprischgriechischen
       Dialekt. Es ist ein Ein-Mann-Auftritt. Er spielt Synthesizer, trägt
       Gedichte vor. Freunde, Bekannte, antifaschistische Mitstreiter lauschen.
       Nach einer Viertelstunde ist sein Auftritt vorbei. Applaus brandet auf.
       
       „Mir ist es wichtig, im zyprisch-griechischen Dialekt zu rappen, nicht in
       Neugriechisch, das in Hellas gesprochen wird. Wir Zyprer sprechen im Alltag
       alle den Dialekt. Das tue ich in meinen Liedern“, sagt er. Immer wieder
       setzt sich der Rapper mit Zyperns Teilung auseinander. In einem seiner
       Lieder heißt es: „Teufel, Teufel, Teufel. Sie werden uns verraten. Sie
       werden uns nie vereinen.“ Mit „sie“ meint er die Machthaber, die die
       Teilung der Insel nicht beseitigen.
       
       Der Rapper will keine Grenze auf Zypern. „Die Grenze ist völlig ausgedacht.
       Das ist ein Land“, sagt er. „Wir sind eingepferchte Schafe. Gehe ich in den
       Norden, muss ich meinen Pass zeigen, als ob ich ein Tourist wäre, der das
       Ausland besucht. Absurd.„Die Teilung führe dazu, dass die Menschen im
       Norden und jene im Süden „in ihren eigenen Blasen leben“, nicht in Kontakt
       kommen. „Für viele im Süden existiert der Norden praktisch nicht“, klagt
       er. „Nur wenn beide Seiten aus ihren Fehlern lernen, kann eine Lösung im
       Zypernkonflikt gefunden werden. Uns trennt nichts. Zyperngriechen,
       Zyperntürken, die Türken, alle Bewohner Zyperns, egal woher sie stammen,
       sind Zyprer. Zypern war immer ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien,
       Sprachen, Religionen und Kulturen.“
       
       Um die Lösung im Zypernkonflikt zu erreichen, stünden alle Seiten in der
       Verantwortung, findet der 25-jährige. „Wir Zyperngriechen aber mehr, weil
       wir die Mehrheit sind.“ Leider sei er nicht zuversichtlich, dass er ein
       vereintes Zypern erleben werde. Chancen dafür habe es gegeben. Sie seien
       aber nicht genutzt worden.
       
       Zum Beispiel der [6][Annan-Plan], benannt nach dem früheren
       UN-Generalsekretär Kofi Annan. Der Anfang 2004 vorgelegte Entwurf sah ein
       Hybridmodell aus einem Bundesstaat (Forderung der Zyperngriechen) und einer
       Union zweier souveräner Staaten (Forderung der Zyperntürken) vor. Der Plan
       scheiterte. Während 65 Prozent der Zyperntürken den Annan-Plan in einer
       Volksabstimmung befürworteten, lehnten ihn 76 Prozent der Zyperngriechen
       ab.
       
       Die Teilung ist zum Dauerzustand avanciert. Politisch. Geostrategisch.
       Ökonomisch. Gesellschaftlich. Sprachlich. Kulturell. So wundert es nicht,
       dass sich derweil ein eher abschätziger Spruch im Neugriechischen
       eingebürgert hat: „Mach es nicht zypriotisch!“ Will heißen: „Komme zu einem
       Ende!“ Die Gespräche zur Lösung des Zypernkonflikts liegen derweil auf Eis.
       
       Im Inselnorden ist der 20. Juli der „Feiertag des Friedens und der
       Freiheit.“ Der Präsident der Türkischen Republik Nordzypern (TRNC), Ersin
       Tatar, wird mit seinem engen Verbündeten, den türkischen Staatspräsidenten
       Recep Tayyip Erdoğan, die alljährliche Militärparade im Inselnorden
       verfolgen. Der 64-Jährige ist in Nikosia, im damals noch vereinten Zypern,
       geboren. Er ist Chef der nationalkonservativen UBP.
       
       ## 40.000 türkische Streitkräfte auf der Insel
       
       Die Militärparade hat Symbolkraft. Dass „auf der Insel seit einem halben
       Jahrhundert kein Blut und keine Tränen geflossen“ seien, sei auf die
       Präsenz der „türkischen Friedenstruppen“ zurückzuführen, hebt Ersin Tatar
       hervor. Die Türkischen Streitkräfte auf Zypern, in der Eigenbezeichnung
       Türkische Friedenstruppe auf Zypern, unterstehen mit ihren geschätzt 40.000
       Soldaten den türkischen Streitkräften.
       
       Während die fortwährende massive Präsenz der türkischen Streitkräfte im
       Inselnorden für die TRNC-Politelite unerlässlich ist, ist sie für die
       Zyperngriechen neben der heiklen Sache türkische Siedler und Immobilien im
       Inselnorden ein dritter Knackpunkt bei der Suche nach einer Lösung im
       Zypernkonflikt.
       
       Der Hardliner Tatar vertritt die Position, wonach es „die Realität sei,
       dass es zwei getrennte Völker und zwei getrennte Staaten auf der Insel
       gibt“. Erdoğan sieht das genauso. Denn nur ein souveräner TRNC-Staat ist
       ein Baustein für sein im Westen weitgehend unbeachtetes Projekt der
       Schaffung und Erweiterung einer Türkischen Welt, in der sich die türkische
       Einflusssphäre vom Mutterland Türkei aus auf alle Gebiete erstreckt, in der
       das Türkische präsent ist oder Turkvölker leben.
       
       Das Konzept ähnelt der unter Putin forcierten Russischen Welt (Russki Mir).
       Die organisatorische Struktur für Erdoğans Projekt wurde bereits
       geschaffen. In der 2009 gegründeten Organisation der Turkstaaten (OTS) mit
       Hauptsitz in Istanbul, deren Mitglieder die Türkei, Aserbaidschan,
       Kasachstan, Kirgistan sowie Usbekistan sind, genießt die „Türkische
       Republik Nordzypern“ einen Beobachterstatus.
       
       Unterdessen lehnt der Präsident der Republik Zypern, Nikos Christodoulidis,
       eine Zweistaatenlösung auf Zypern strikt ab. In seinem Amtssitz in Nikosia
       wird er am 20. Juli unter Anwesenheit des griechischen Premiers Kyriakos
       Mitsotakis eine Rede halten. Den Tenor gab Christodoulidis, der gerade
       fünfzig Jahre alt ist und Zyperns erster Präsident aus der
       Nachkriegsgeneration ist, bereits im Vorfeld preis: „Die Zyprer warten
       geduldig, sie hoffen, sie kämpfen“, sagte er kürzlich bei einer Rede.
       
       Wer glaubt, die Zyperngriechen hätten eine geschlossene Meinung in der
       Causa Zypern, der irrt gewaltig. Einer im November 2022 veröffentlichten
       Umfrage des zyprischen Staatssenders RIK zufolge sprachen sich 36 Prozent
       der Befragten für ein Staatsmodell auf Zypern aus, wie es im Annan-Plan
       vorgesehen war.
       
       Ferner wollten 18 Prozent zwei unabhängige Staaten, 14 Prozent plädierten
       für einen einheitlichen Staat, 13 Prozent waren für die Beibehaltung des
       Status quo und sechs Prozent favorisierten einen Staatenbund zweier
       souveräner Staaten. Zwei Prozent sprachen sich für einen Status quo ante
       aus (wie vor 1974), falls erforderlich mit Gewalt.
       
       Die Sirenen werden abermals heulen. Am Samstag, dem 20. Juli, um Schlag
       5.30 Uhr werden sie daran erinnern, dass türkische Truppen im Morgengrauen
       vor genau 50 Jahren in den Inselnorden einfielen. Das Leben wird seinen
       gewohnten Gang gehen. In ganz Zypern.
       
       20 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zypern.de/beruehmtheiten/erzbischof-makarios-3/
   DIR [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Atilla_(Turkish_Invasion_of_Cyprus)
   DIR [3] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/177377/zypernfrage/
   DIR [4] /Blutiges-Weihnachten-in-Zypern/!5980828
   DIR [5] /Gefluechtet-und-gestrandet-auf-Zypern/!5982018
   DIR [6] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-7-2010-5413_EN.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ferry Batzoglou
       
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       dagegen.
       
   DIR Preisgefälle im Tourismus: Türkei zu teuer für Türken
       
       Die Türkei ist kein Billig-Reiseland. Grund dafür ist die anhaltende
       Inflation. Mit Express-Visa reisen viele lieber zu griechischen Inseln.
       
   DIR Zyperns Außenminister Kombos: „Die Teilung überwinden“
       
       Seit 50 Jahren ist Zypern zweigeteilt. Außenminister Konstantinos Kombos
       über Ansätze zur Konfliktlösung und Zyperns Rolle in einer explosiven
       Region.
       
   DIR Flucht und Migration in die EU: Zypern macht dicht
       
       Zypern setzt die Bearbeitung von Asylanträgen von Syrern aus. Grund ist die
       gestiegene Zahl von Neuankömmlingen. Nun soll ein Deal mit Libanon her.
       
   DIR Geflüchtet und gestrandet auf Zypern: In der Sackgasse
       
       Muhammed kam aus Syrien nach Zypern. Im Lager wartet er auf Anerkennung als
       Flüchtling. Doch Zypern ist nicht im Schengenraum. Mitteleuropa? Wohl
       unerreichbar.
       
   DIR „Blutiges Weihnachten“ in Zypern: Versöhnliche Knochen
       
       Am 21. Dezember 1963 eskaliert die Gewalt zwischen griechischen und
       türkischen Zyprioten. Eine gemeinsame Initiative sucht jetzt nach den
       Vermissten.